Meron Mendel Die Mendel’schen Regeln 12
: Gute Satire zeichnet sich durch Selbstzweifel aus

Foto: privat

Wenn ich mit meinen Kindern am Sonntag die anstehende Woche bespreche, dann unter Vorbehalt: Ist morgen Schule oder nicht? In Frankfurt am Main erfahren wir oft erst Sonntagabend, ob Montag Präsenzunterricht ist oder wir uns auf Homeschooling einstellen müssen. In Deutschland, dem Land der Ingenieurs- und Planungsweltmeister, wird seit 14 Monaten jede Woche aufs Neue so getan, als sei Corona eben erst vom Himmel gefallen. In Israel kann man wieder ins Café, hier ist man noch damit beschäftigt, wenigstens die Generation Ü65 zu impfen. Man hatte alle Zeit der Welt, die Lage durchzuplanen, und im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auch die nötigen Mittel. Stattdessen scheinen deutsche Po­li­ti­ke­r*in­nen nach wie vor von dem Aberglauben befallen, die Probleme würden sich irgendwann von selbst lösen.

Das ist ein Stoff, an dem sich Sa­ti­ri­ke­r*in­nen bedienen können, und die Schauspieler*innen, die sich unter dem Hashtag #allesdichtmachen versammelt haben, wollten ihre Beiträge als Satire verstanden wissen. Sie sind aber auch künstlerisch gescheitert. Satire darf alles, sagt ein Spruch, nur nicht langweilen. Nachdem wir jede Wochen „Querdenken“-Veranstaltungen sehen, auf denen mit Anne-Frank-Vergleichen, KZ-Uniformen und Judensternen provoziert wird, bin ich gelangweilt, wenn die Allesdichtmacher Corona mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen. Satire tritt nicht nach unten, lautet ein anderer Spruch. Ich kann mir nicht vorstellen, was mehr Nach-unten-Treten symbolisiert als ein reicher Schauspieler, der die Geräusche der Beatmungsmaschinen imitiert, an denen Menschen in Todesangst hängen.

Satire ist eine Kunstform, aber die Mittel, derer sich die 53 bedienten, sind begrenzt; bis auf triefende Holzhammerironie kommen mir die Beiträge künstlerisch äußerst schlicht vor. In der Aktion sehe ich das Satirelabel eher als Schutzbehauptung für Gepöbel. Man hat die Mindestanforderungen an das Genre erfüllt, um sich notfalls hinter die Kunstfreiheit zurückziehen zu können – ähnlich wie bei dem berühmten israelkritischen Gedicht von Günter Grass, wo gerade noch die Zeilenumbrüche den Unterschied zum Facebook-Rant markierten.

Ein Problem von Satire in heutiger Zeit scheint mir der fehlende Generalkonsens zu sein, auf den sie sich beziehen kann. In ihrer einfachsten Gestalt ist Satire ein Organ der Vernunft im Foucault’schen Sinne: Satire markiert und bestraft die Ab­weich­le­r*in­nen vom Konsens, die „Wahnsinnigen“ – in der Abgrenzung entsteht überhaupt erst die kulturelle Konstruktion von Wahn und Vernunft. In Zeiten einer stark polarisierten Gesellschaft, von Fake News und alternativen Fakten, gibt es aber nicht den einen Konsens.

Das missfällt mir auch an moralischer Satire, die von links kommt. Wenn sich ein Jan Böhmermann aufs Kollektiv der Vernünftigen bezieht, zu denen „Querdenker“ lediglich die verrückten Abweichler sind, unterschätzt er, dass die Gegenseite sich ebenfalls erfolgreich als vernünftiges Kollektiv konstruiert, das den „Irrsinn der Maßnahmen“ aufheben möchte. Um die Vernunft gegen wachsende Widerstände doch noch irgendwie herzustellen, professionalisiert sich Satire immer stärker: Böhmermann beschäftigt inzwischen einen Stab von Jour­na­lis­t*in­nen und Rechercheur*innen. Mir scheint das kein Weg zur Rettung der Satire – die Gegenseite investiert genauso, ein Wettrüsten der verschiedenen „Vernunften“ wird die Polarisierung eher noch verstärken.

Gute Satire zeichnet sich nicht aus durch Bescheidwissen und überlegene Vernunft, sondern durch Selbstzweifel, Unsicherheit, bewusste Naivität, sokratische Fragen und die Ausstellung der eigenen Fehlbarkeit. Das Rezept gegen Fake-Satiriker vom Schlage der 53 wäre vielleicht: wieder an der eigenen Vernünftigkeit zu zweifeln. Vielleicht brauchen wir Deutschen einfach ein bisschen mehr Zeit, nicht nur für Impfungen, auch für gute Satire.

Für meine Kolumne hingegen ist die Zeit gekommen, dies ist die letzte Folge. Ich bedanke mich für Ihr Interesse und freue mich, wenn wir uns an anderer Stelle einmal wiedersehen.

Der Autor ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.