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Lecker Philippika

Voll nice: Mit „Terrorsprache“ schreibt „Titanic“-Autor Stefan Gärtner das legendäre Wörterbuch des Unmenschen fort

Von Nina Apin

Finden Sie es auch krass, wie massiv die Inzidenzen nach oben gehen? Haben Sie auch so einen Stress, weil die Kurzen nicht in den Kiga können? Oder finden Sie es trotz allem gerade spannend im Job?

Wenn Sie sich in einem der obigen Sätze wiederfinden können, dann sind Sie wahrscheinlich ein Unmensch. Rein sprachlich gesehen natürlich. Denn wenn Sie wie oben beschrieben sprechen, sprechen nicht Sie wirklich: „Es spricht aus Ihnen“, wie der Autor Stefan Gärtner in seinem neu erschienenen Buch „Terrorsprache. Aus dem Wörterbuch des modernen Unmenschen“ feststellt. Ob Werbebranche, Wirtschafts-, Verwaltungs- und Nachrichtensprech, oder Sportberichterstattung, mithin die Verhältnisse, in denen Sie leben, haben Ihre Sprache zu einer hässlichen gemacht. Und jedes Mal, wenn Sie „krass“ sagen und „zeitnah“ oder an irgendetwas „scharfe Kritik“ üben, dann helfen Sie aktiv dabei mit, Wirklichkeit an die herrschenden Machtverhältnisse anzupassen.

Wörter sind nie unschuldig und der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen, das wussten schon die Autoren des 1957 erschienenen Nachschlagewerks „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“. Damals, zwölf Jahre nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands, ging es den Autoren Dolf Sternberger, Wilhelm Emanuel Süskind und Gerhard Storz, darum, dem untoten Vokabular des Nationalsozialismus nachzuspüren. Sie zeigten, wie die Nazis sich mit Wortkreationen wie „Kulturschaffende“ und „Mädel“ ganze Bevölkerungsgruppen einverleibten, wie sie mit technisierten Begriffen von „Lager“ bis „Ausrichtung“ die Wirklichkeit durch semantische Verschiebungen veränderten, kurz: Wie sie mit Sprache versuchten, eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Die ironischen Sprachglossen, zunächst in der Monatszeitschrift Die Wandlung erschienen, hatten die Absicht, den Westdeutschen die Sprache der Unmenschen wieder „fremd“ zu machen. Doch 1957, als das Kompendium in Buchform erschien, stellte Dolf Sternberger fest, dass die Unmenschlichkeit nicht gewichen war, im Gegenteil: „‚Das Wörterbuch des Unmenschen‘ ist das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben, der Schrift- wie der Umgangssprache, namentlich wie sie im Munde der Organisatoren, der Werber und Verkäufer, der Funktionäre von Verbänden und Kollektiven aller Art ertönt.“ Neue Unmenschenbegriffe der Nachkriegsära kamen hinzu, etwa die „Frauenarbeit“, das „Problem“ und das „Anliegen“. In die dritte und letzte Auflage von 1967 nahmen die Autoren Un-Wörter wie „Härte“, „Auftrag“ und „Menschen“ mit auf.

Stefan Gärtners „Terrorsprache“ nimmt diesen Traditionsfaden wieder auf. Sein nur notdürftig als Nachschlagewerk getarntes Büchlein ist eine humorvolle Philippika gegen aktuellen Sprach- und Bewusstseinsmüll. Wobei es Gärtner nicht darum geht, sprachschlampige Zeitgenossen zu denunzieren – es gehe ihm, so betont der Autor im Vorwort, nicht um den Einzelfall, sondern das Allgemeine. Das allgemeine Übel unserer Zeit besteht ihm zufolge darin, dass wir uns faselnd dem Or­well’schen Neusprech nähern, „einer Kurzsprache, ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen, das Denken mit der Wurzel auszureißen“.

Und dafür bedürfe es nicht einmal einer diktatorischen Verfügung, es reichten „Presse, Glotze, Werbung“, dass eine Sprachgemeinschaft sich freiwillig „störender Nuancen und Valeurs und Möglichkeiten“, ja: der Schönheit entledige. Die Terrorsprache als Ausdruck von Unfreiheit und des Unwahren zu erkennen, das ist Gärtners Mission, auf die er die Leserin in 39 ätzenden Einträgen zum Sprachwahnsinn unserer Zeit mitnimmt.

Mit dem Modeadjektiv „massiv“ geht es los, dem SUV der Sprache, ein Dringlichkeitsverstärker und die kleine Schwester von TINA (there is no alternative) – die in Sprache geronnene Alternativlosigkeit unserer Gegenwart. Wobei, gibt Gärtner zu bedenken: „Massiv ist das, was der Fall ist, ist die Mauer in den Köpfen und um die Welt. Wäre die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr massiv, sie wäre im selben Moment überhaupt nicht mehr. Denn eine massive Revolution, was sollte das anderes sein als der Quatsch, den sie zu beenden hätte?“ Als nächstes ist die kulinarische Allzweckvokabel „lecker“ dran, die der Autor als beliebig und infantil schmäht – „das doppelplusgut unserer Zeit, der Wort gewordene, heillos erigierte Like-Daumen, […] die schier totale Affirmation“. Im freudlosen Behördenbegriff „zeitnah“ sieht er eine sprachliche Unterwerfung unter die Bürokratisierung unseres Lebens, in der aus Gründen der Zeitersparnis unter Nachrichten hingeschriebenen Grußformel „lg“ (liebe Grüße) wittert er falsche Freundlichkeit und gelogene Nähe. Die verbreitete Unart aber, bei jeder Gelegenheit „Alles gut!“ zu rufen, ist für Gärtner weitaus mehr als lästiger Sprachmüll, sondern bereits Propaganda, der „Schlachtruf eines Positivismus, der im Neoliberalismus seine Erfüllung gefunden hat“.

Was den Autor an diesem Schlachtruf so auf die Palme bringt, illustriert sein Gesamtanliegen: Indem er die flotten Sprüche und Phrasen der Gegenwart auseinandernimmt, will er die Erbärmlichkeit unserer zeitgenössischen Wirklichkeit bloßlegen und zeigen, dass der Spätkapitalismus unter all dem sprachlichen Tinnef nackt ist: „Gut möglich, dass „Alles gut!“ bloß die […] Parole der Mittelschicht ist, die mit Abstiegsängsten nach unten blickt […]. „Alles gut!“ wäre also auch eine Form der Selbstverständigung, genauer: Selbstbestätigung, eigentlich: der Beschwörung, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Dass nämlich nicht alles gut sei. Dass nämlich die Welt an Konkurrenz und Wettbewerb zugrunde geht. […] Das wollen sie hören, die Tag für Tag zur Effizienz Verdonnerten, die weder am perfekten Lebenslauf noch an der Kalorienzähluhr das mindeste auszusetzen haben: Dass sie die Sieger der Geschichte bleiben.“

Das penetrante „Du“ der Werbeindustrie, das einvernahmende „Wir“ im Sportjournalismus, das ewige „bespaßen“ und „bespielen“ des Nachwuchses und der Social-Media-Followerschaft wie auch das permanente „liefern“ im Job, für Gärtner sind diese sprachlichen Erscheinungen Ausdruck eines mit sprachlicher Funsoße übergossenen Systemzwangs: Wer nicht mitmacht, ist draußen, wer nicht liefert, ist geliefert. Und wo die Diagnose gilt, dass „Fun ein Stahlbad“ ist, da robbt sich auch das Militär mittels „Erwartungshaltung“ und „Stimmungslage“ an den Sprachgebrauch heran.

Immer wieder fällt Stefan Gärtner in seinem Buch über einen ARD-Sportreporter her

Auch die Geisteswissenschaften rühren kräftig mit an der affirmativen Soße, von der „Philosophie“, die sich jeder Kaffeevollautomatenhersteller andichtet, bis hin zur „gefühlten“ Weltlage, die sensible Zeit­ge­nos­s:In­nen „anfasst“. Am Schlechtesten kommen natürlich die Jour­na­lis­t:In­nen weg, deren tote Wörter und Sätze „jetzt schon klingen wie vom Algorithmus produziert“– obwohl sie es eigentlich alle besser könnten.

Spitzfindiges Beharren

Na ja, fast alle: Als Un-Mensch par excellence gilt dem Autor ARD-Sportmoderator Matthias Opdenhövel, der mit Bonmots wie „ganz locker durch die Hose geatmet“ und „ist ein Leckerchen“ auffällt. Opdenhövel sei ein solch sprachlicher und geistiger Tiefflieger, dass er rein gar nichts mehr merkt. Trotz Beteuerung im Vorwort, er betreibe keine Denunziation, berührt dann doch etwas unangenehm, wie der wortgewaltige Gärtner immer wieder über diesen einen Sportreporter herfällt. Und gelegentlich bekommt sein spitzfindiges Beharren auf dem passenden Ausdruck etwas Pedantisches: Dann ist der linguistische Oberlehrerduktus eines Bastian Sick nicht mehr weit. Doch Gärtner kriegt meist gerade noch die Kurve, bezichtigt sich selbst der Besserwisserei und versteckt sich elegant hinter anderen Sprachmisanthropen, Schopenhauer etwa, Adorno oder Karl Kraus.

Literarisch ist Gärtners „Versuch, den Gedanken gegen den Reflex, das Wort gegen die Parole und einen Stil des Lebens gegen den Lifestyle aufzurufen“, allemal erfolgreich – aber ob er auch durchdringt? Das wage ich, am Anfang des Jahres „Zwanzigeinundzwanzig“ und am „Ende des Tages“ nur „insofern“ zu beantworten, als dass die Lektüre „spannend“, wenn nicht gar „extrem nice“ war.

Stefan Gärtner: „Terrorsprache. Aus dem Wörterbuch des modernen Unmenschen“. Edition Tiamat, Berlin 2021, 112 Seiten, 14 Euro

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