„Kein Ort ist zum Langweilen gemacht“

Joël Henry gilt als der Erfinder des experimentellen Reisens. Seine „Art zu reisen und zu spielen“ inspiriert nicht nur zu ökologischen, sondern auch zu coronasicheren Unternehmungen

Das Paradies ist denkbar, zumindest in der Vorstellung Foto: Jeffrey Coolidge/getty

Interview Luise Wolf

taz am wochenende: Herr Henry, was ist experimentelles Reisen?

Joël Henry: Ich denke, es ist ein Spiel über das Reisen, eine Art zu reisen und zu spielen. Was ich tue, ist wirklich nichts anderes, als Spielregeln zu erfinden.

Könnten Sie ein paar Beispiele nennen?

Eines der simpelsten Spiele ist es, dein Zuhause zu verlassen und die erste Straße zur Linken zu gehen, dann die erste Straße zur Rechten, dann wieder links und so weiter, bis du auf ein Hindernis stößt und nicht mehr weiterkommst. Das ist die eine Reise, die ich immer wieder mache, zum Beispiel in einer fremden Stadt oder einfach vom Campingplatz aus. Die andere ist die Alpha-Reise: Du nimmst dir eine Karte zur Hand. Zwischen den ersten Straßen mit den Anfangsbuchstaben A und Z, die du erblickst, ziehst du eine Linie. Der folgst du dann möglichst. Eines der bekannteren Spiele heißt Ero-Reisen: Du lädst eine enge Freundin oder einen engen Freund ein, in dieselbe Stadt zu fahren. Aber ihr fahrt nicht zusammen dorthin, ihr versucht euch dort zu finden – ohne Verabredung oder Anrufe natürlich.

Kann man das auch auf dem Land spielen?

Ich habe immer in der Stadt gelebt, daher neige ich dazu, in Begriffen von Städtereisen zu denken. Manchmal fahre ich im Urlaub aufs Land und bin da völlig außer mir. Alles ist so anders und exotisch für mich; die Geräusche, die Gerüche, die Landschaften, die Rhythmen; sodass ich oft nicht das Bedürfnis habe, experimentellen Tourismus zu machen. Aber es gibt da einige Spielanleitungen, z. B.: Verlasse dein Zuhause mit einem Kompass und gehe konsequent nach Norden.

Wie fing es an mit dem experimentellen Reisen?

1989 verbrachte ich jedes Wochenende in Straßburg mit zwei Freunden und wir stellten irgendwann fest, dass wir keine Lust mehr auf konventionellen Tourismus hatten. Also schrieben wir die Orte, an die wir fahren wollten, auf einen Zettel – nicht weiter als 200 oder 300 Kilometer entfernt. Dann zog jeder blind sein nächstes Reiseziel. Das war nicht besonders experimentell, aber an einen Ort zu fahren, den man sich nicht selbst ausgesucht hatte, gab dem etwas Spielerisches und auch das Gefühl von Freiheit. Es fühlte sich wirklich besonders an. 1990 machten wir ein ähnliches Experiment in Zürich, da waren wir dann zu siebt. Und ich machte damit weiter.

Was hat Sie immer wieder zu diesen Spielen inspiriert?

Der Witz an der Sache. Das wichtigste ist der Humor. Aber klar, wir wählten Zürich auch deshalb, weil dort die Da­da­is­t:in­nen waren. Mir macht es außerdem großen Spaß, mit der wissenschaftlichen Sprache zu spielen, Neologismen zu erfinden, zum Beispiel Kofferwörter aus griechischen Begriffen und künstlerischen Bewegungen zu bilden.

Es gibt ein Spiel, das sich „Die Reise des Mangels“ nennt. Der Urlaub soll mit Mangel an möglichst vielen Dingen gestaltet werden; Zeit- und Geldmangel, auch könnte das Reiseziel rein gar keine Empfehlungen haben oder die Sprache unbekannt sein. Es ist sehr lustig, das als Witz zu verstehen, aber ist es lustig, das zu machen?

Also ich habe das Spiel in der Form gemacht: Ich habe mich gefragt, welches Ziel interessiert mich wirklich am wenigsten? Ich habe lange darüber nachgedacht und fand: die Börse in Frankfurt. Und es war gar nicht langweilig, ich glaube seitdem, dass kein Ort zum Langweilen gemacht ist. Tatsächlich war es wirklich lustig, denn ich wollte ein Souvenir kaufen, aber ausgerechnet an dem Platz auf der Welt, an dem es nur um Geld geht, konnte ich rein gar nichts kaufen, nicht einmal einen Euro ausgeben.

Eu­ro­päe­r:in­nen haben heute unzählige Möglichkeiten zu reisen – von kulinarischen Reisen bis hin zu Expeditionen in die Arktis. Was kann das experimentelle Reisen da noch hinzufügen?

Foto: privat

Joël Henry ist Journalist und lebt in Straß­burg. Er arbeitete schon als Spiele­erfinder und Buchverkäufer. 1990 gründete er mit Freunden die dadaistisch-wissenschaftliche Organisation Latourex – ein Labor für experimentellen Tourismus. 2005 brachte er mit Rachael Antony den „The Lonely Planet Guide to Experimental Travel“ heraus. Neuerdings berät er vereinzelt auch Tourismusagenturen zu Lokaltourismus.

Ich will niemanden darüber belehren, was eine gute Reise ist. Ich denke, experimentelles Reisen ist ein Vorschlag, etwas anders zu machen. Und oft ist es gar nicht sehr verschieden. Wenn du einmal gestartet bist, machst du wahrscheinlich dieselben Dinge, die andere Touristen auch machen; Sightseeing, Fotos, Notizen, so etwas. Nur, dass eben die Spielregeln entscheiden, wohin du gehst und wie du dahin kommst. Es geht eben nicht um Sandstrände oder historische Gebäude. Es ist ein Spiel und wie bei jedem Spiel – sobald man sich darauf eingelassen hat – ist man drin, wie in einem parallelen Sein jenseits des Normalen. Und davon bekommt man eine spezifische Freiheit. Selbst an Orten, die nicht sehr interessant erscheinen, kann man sich sehr befreit fühlen und deshalb macht man das.

Sie sind heute 66 Jahre alt. Reisen Sie immer noch und machen Sie auch konventionelle Reisen?

Ja, aber nicht mehr so weit. Meine Frau und ich versuchen, konsequent ökologisch zu leben, und fliegen nicht mehr. Wir fahren viel Fahrrad. Und das ist auch das Paradies auf Erden. Da gibt es das Spiel „Retourisme“: Du fährst sehr schnell an einen Ort nahe deinem Heimatort und fährst so langsam wie möglich zurück. Nur als Witz schrieb ich dieses Spiel einmal auf. Aber eines Tages sagten meine Frau und ich uns, wir testen das mal. Also fuhren wir mit dem Zug in die Schweizer Alpen und von dort mit dem Fahrrad zurück. Es war wirklich wunderbar. Anfangs nur als Witz gemeint, wurde daraus ein klassischer Urlaub.

Experimenteller Tourismus scheint nicht nur zu ökologischen Reisen zu inspirieren, sondern auch zu coronasicherem Unterwegssein …

Ja, auf jeden Fall. Während des strikten Lockdowns in Frankreich letztes Jahr ging ich jeden Tag fünf Kilometer in meiner Wohnung umher. Ich habe mir vorgenommen, auf diesem Wege bis Berlin zu laufen. Also habe ich es mir auf der Karte angeschaut – ich bin schon bis Burg Guttenberg am Neckar gekommen, 140 Kilometer von Straßburg entfernt (lacht). Ich mag auch die Stadtsafari sehr gern, da kann man Fotos von Tieren sammeln, nicht nur von lebenden, auch von Graffiti und so weiter. Es ist toll, weil man nie weiß, wann man einem begegnet.

Ja, ganz anders als auf Safaris in Südafrika. Da weiß der Guide oft ganz genau, wo der Löwe liegt …

Da haben Sie wohl recht.

Sie fotografieren sehr viel auf Ihren Reisen. „Instagrammability“ wird jungen Menschen immer wichtiger bei ihrer Reiseplanung. Hotels machen Influencer-Marketing, bauen um für den perfekten Fotowinkel. Was denken Sie über diese Reisekultur?

Ich weiß auch nicht … Aber ich kann mir vorstellen, dass wir in der Zukunft nicht mehr so weit reisen werden wie in den letzten Dekaden. Vielleicht kommen direkt nach der Coronakrise noch einmal andere Zeiten, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Leute vor dem Hintergrund der Klimakrise so weitermachen wollen.

Ich will niemanden belehren. Ich denke, experimentelles Reisen ist ein Vorschlag, etwas anders zu machen

Wie wird sich unsere Perspektive auf das Reisen verändern?

Das Reisen, wie wir es heute betreiben, ist relativ jung – es begann in den 1820ern – und wir tun es, als wäre es selbstverständlich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das so sehr brauchen. In Frankreich hatten wir einige Lockdowns und ich denke, die französische Gesellschaft hat dabei auch erfahren, dass es nicht wirklich nötig ist, weit zu reisen. Wir konnten unsere Wohnungen nur für eine Stunde am Tag und nur in einem Umkreis von einem Kilometer verlassen. Als wir dann schon 100 Kilometer zurücklegen durften, empfanden wir das als Freiheit und für mich war das genug. Dann gibt es Moden wie Slow Tourism und viele andere Zeichen, dass wir eher erkunden werden, was um uns herum ist als am anderen Ende der Welt.

Sind Sie etwa nie viel gereist?

Nein, nicht sehr viel. Ich gehöre zu der Generation, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre nach Indien oder Nepal gereist ist. Aber ich habe mich anders entschieden. Ich habe mich in meine heutige Frau verliebt und wir bekamen Kinder. Ich bin nur ein- oder zweimal wirklich weit gereist, nur um Freunde oder Familie zu treffen.

Ist Reisen nicht wichtig, um Verständnis für andere Kulturen und Lebensstile zu entwickeln?

Als ich 20 war, entschieden sich meine Frau und ich, nach England zu ziehen. Wir verbrachten sieben Monate dort – uns ging das Geld aus und wir zogen zurück nach Straßburg – aber der Punkt ist, wir haben nicht viel verstanden von den Leuten, dem Ort, der Kultur dort. Auf Urlaubsreisen lernt man ja schon neue Dinge kennen; ein anderes Klima, Essen, neue Musik; aber das ist doch nicht so viel im Vergleich zu dem, was man aus, sagen wir, Dokumentationen auf Arte oder aus Romanen ziehen kann. Diese Idee, in zwei Wochen Asien oder Afrika zu „verstehen“, ist doch nicht wahr … Es gibt ein Spiel, das ich besonders gern mag, die Bibliodyssee: Man versuche ein anderes Land oder die ganze Welt zu bereisen durch Bücher.