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Gesellschaft im Überlebensmodus

Passend zur Pandemie: Das Celler Schlosstheater bringt Karel Čapeks „Die weiße Krankheit“ auf die Bühne – vorerst nur in Gestalt eines „Theaterfilms“. Den Antifaschismus und Pazifismus des Stücks von 1937 überschreibt Intendant Andreas Döring mit Bezügen auf heutige Krisensituationen

Von Jens Fischer

Deutschlands Theater suchen den Superstar – der Seuchenliteratur. Und finden in der Antike das von der Pest heimgesuchte Theben (Sophokles, „König Ödipus“). Auch die biblischen Plagen zitiert man derzeit gern, und Giovanni Boccaccios „Il Decamerone“ wurde an überreichlich Bühnen vorgetragen: Fliehen darin doch zehn junge Leute vor der Pest aus Florenz aufs Land, um sich die Zeit mit Geschichtenerzählen zu vertreiben, während jeder dritte Mensch in Europa stirbt.

Die Seuchenliteratur eint Leid, Tod und Angst, das Gefühl der Bedrohung aus dem Unbekannten und philosophische Aufschwünge mit Sinnfragen. Das Motiv der verheerenden Infektionskrankheit wird dabei nicht nur zur psychosozialen Analyse genutzt, sondern meist gleich als Parabel auf gesellschaftliche Krisen, menschliche Hybris und Ohnmacht an sich. Albert Camus’„Die Pest“ steht beispielsweise für das Sterben der Menschen wie auch der Menschlichkeit in diktatorischen Zeiten, dem nationalsozialistisch okkupierten Frankreich.

Als super Coronadramen taugten die meta-bedeutungsvollen Stoffe bisher selten – jetzt aber trumpft das Schlosstheater Celle mit einer passgenau scheinenden Ausgrabung auf: Karel Čapeks „Die weiße Krankheit“, uraufgeführt 1937 in Prag. „Eine Pandemie. Eine Seuche, die lawinenartig die ganze Welt erfasst“, heißt es da: Aus China komme sie, ihr seien bereits fünf Millionen Menschen erlegen, „einige Dutzend Millionen sind akut betroffen, und mindestens dreimal so viel laufen durch die Welt und wissen es gar nicht.“ Übertragen wird diese Krankheit beispielsweise durch Händeschütteln, sie befällt vor allem Ältere, Infizierte müssen isoliert werden.

Aber auch dieser Čapek, vor ziemlich genau 100 Jahren Schöpfer des Begriffs „Roboter“ übrigens, ist kein Coronaprophet. Ihm dient die Pandemie vor allem als politische Allegorie auf als viral verstandene Ideologien: in der totalitären Sowjetunion, unter der faschistischen Diktatur Mussolinis, und nicht zuletzt dem deutschen Nationalsozialismus.

Die Handlung des Stücks dreht sich denn auch um einen „Marschall“, der einen Eroberungskrieg plant und im Vorübergehen auch ein winziges Nachbarland einkassieren will. Weil das im Jahr 2021 nicht so aktuell ist, hat der Celler Intendant Andreas Döring einen dicken Überschreibungsstift aus der Schublade geholt; die pazifistisch-antifaschistische Abrechnung der 1930er-Jahre ersetzt er durch heutige Diskurse, und das ursprünglich ewig lange Personenregister konzentriert er auf vier Figuren, allesamt mit Frauen besetzt: Berenice Brause, Zora Fröhlich, Pia Noll und Verena Saake. Da „Die weiße Krankheit“ nach Angaben des Celler Theaters noch „nie auf einer deutschsprachigen Bühne aufgeführt“ wurde, kam die coronabedingte Online-Premiere als „deutsche Uraufführung“ heraus.

Die Grundstruktur der dramatischen Konflikte bleibt erhalten, das recht farcenhaft rumpelige Vorführen des politisch-ökonomischen Machtapparates und ihrer Verblendungsmaschinerie aber wirken runderneuert. Im Breitwandbühnenbild (Ausstattung: Sabina Moncys), einem steril-hellen Raum, lenken nun die gräulichen Business-Kostüme, trotz Kombination mit orangenen Plastikhandschuhen, nicht von den Worten ab. Und weil ja mit Abstand agiert werden muss, findet überhaupt kaum Interaktion statt. Minimalistisch, steif und statisch hat Tim Egloff diese „Krankheit“ inszeniert: Die Schauspielerinnen bleiben in den Dialogen mit ihren Ausführungen häufig allein. Nicht Charaktere werden ausdifferenziert, sondern vier Thesenträgerinnen liefern Positionen der Wissenschaft, Medizin, Politik und Medien zum Thema Verantwortung ab. Und zeigen dabei auf, dass Menschen in Krisensituationen schnell in einen nicht-altruistischen, einen bloßen Überlebensmodus schalten.

In Dörings Fassung des Stücks gehört dazu eine Pandemiepolitik unter Ausschluss der Öffentlichkeit – nicht unähnlich der realen Bundesregierung, die auf Parlamentsdebatten sowie auf zivilgesellschaftliche Mitsprache lange verzichtete und damit eine wichtige Chance der Legitimation vergab. Ein Effekt: Das Aggressionspotenzial steigt. Lässt Čapeks Text fanatisierte Massen marodieren, wird in der Celler Fassung von unberechenbaren Leugnern der unbequemen Pandemiewahrheit berichtet, die dem Staat und seinen Maßnahmen grundsätzlich misstrauen: eine „Ansammlung von Fehlgeleiteten, die wie hirnlose Lämmer mit Wölfen zusammen demonstrierten“.

Übertragen wird diese Krankheit beispielsweise durch Händeschütteln, sie befällt vor allem Ältere, Infizierte müssen isoliert werden

Die wachsende Spaltung und Radikalisierung der Gesellschaft als Gefahr für die Demokratie zu behaupten, gelingt der Aufführung mittels zugespitzter Argumentationen. Dr. Galen (Bérénice Brause) hat eine Medizin wider das Virus entwickelt, will die Rezeptur aber nur verraten, wenn alle Regierungen schriftlich auf alle Kriege und jedwede Rüstungsproduktion verzichten – da verhandelt der Überschreibungsautor Döring, oberflächlich wenigstens, Čapeks Vermengung des Kampfs gegen die Pandemie mit dem für globalen Frieden. Ist das nun furchtbar naiv, notwendig erpresserisch oder ganz perfide revolutionär?

Nicht nur den Regierenden gelten Galens Appelle: Dem Mitarbeiter einer Waffenfabrik verweigert sie die Behandlung, eine Moraldebatte hebt an. Müssen Ärzte jedes einzelne Leben retten oder dürfen sie den Tod vieler in Kauf nehmen, um der restlichen Menschheit das (friedliche) Überleben zu sichern? Wer wird zuerst geimpft? Dürfen Heilmethoden überhaupt ein Geschäft sein?

Was die Wirkung dieser erregten Talkshow-Gemengelage aber einschränkt, ist das Mittel der Verfilmung. Zwar ist der Trailer prima geschnitten und bringt die Handlung in einer Minute auf den Punkt, also: die ethische Problemstellung, dem kompletten Theaterfilm, gemacht von derselben Produktionsfirma, fehlt aber ein ästhetisches Konzept. Recht wahllos wechseln die Perspektiven, Kamerafahrten wirken ebenso ratlos eingefügt wie Split-Screen-Design und Bilder in Überwachungskamera-Anmutung. Sprechende sind in der Totalen häufig nicht zu sehen, weil sie hinter Bühnenbildstreben stehen. Die Aufführung wirkt teilweise wie eine Durchlaufprobe und die Filmfassung passt sich dem an. Eine analoge Premiere soll es aber auch noch geben – nach dem Theater-Lockdown.

„Die Weiße Krankheit“: Das Video findet sich unter https://schlosstheater-celle.de/die-weisse-krankheit-theateraufzeichnung.html

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