Ausstellung „Der kalte Blick“: Bilder der Ermordeten

Im „Dritten Reich“ stand die Wissenschaft im Dienst von Massenmördern. Davon erzählt eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors.

Eine junge Frau, Dora Maria Kahlich, steht hinter einem sitzenden Mädchen in einem Fotoatelier

Dora Maria Kahlich (stehend) bei der anthropologischen Arbeit, 1933/34 im rumänischen Marienfeld Foto: Naturhistorisches Museum Wien, Anthropologische Abteilung

Es sind Hunderte Fotos. Sie sind klein, schwarz-weiß und alle im Hochformat. Die darauf abgebildeten Menschen sind nach einem festgelegten Standard fotografiert worden: von vorne, in der Drittelansicht, im Profil und frontal mit dem Kopf in den Nacken gelegt. Man kann die Bilder sehen, aber nicht genauer betrachten. Denn ein Podest macht es unmöglich, die schmalem, schwarz ausgekleideten Gänge zu betreten, an deren Wänden die Fotos ausgestellt sind.

Das ist kein museumspädagogischer Schnickschnack, sondern dient dazu, die Würde dieser Menschen zu bewahren. Kaum einer der Abgebildeten – Frauen, Männner, Kinder – hätte um eine Erlaubnis zur öffentlichen Ausstellung ihres Konterfeis gefragt werden können.

Der kalte Blick. Sonderausstellung in der Topographie des Terrors, Berlin. Bis 11. 4., Katalog 18 Euro, Eintritt zur Ausstellung ist frei.

Sie sind tot, fast alle 631 Personen, ermordet, nur wenige Monate nachdem sie sich hatten fotografieren lassen müssen. Sie sind Juden aus der polnischen Kleinstadt Tarnów, gelegen östlich von Krakau, und die in der Berliner Topographie des Terrors ausgestellten Fotos beweisen, wie Wissenschaft Massenmördern zuarbeiten kann – und umgekehrt.

Die Bilder stehen im Mittelpunkt einer sorgfältigen Ausstellung, die einerseits zeigt, welcher Irrsinn als Wissenschaft durchgehen kann, wenn die Macht- und Denkverhältnisse es nahelegen. Andererseits stellt die Schau eine Reminiszenz an die untergegangene Welt der Juden der Kleinstadt dar. Schließlich verweist sie auf die Täter: die vorgeblichen Wissenschaftlerinnen, der Fotograf und die Mörder selbst.

Suche nach „typische Rassenmerkmalen“

Es war Herbst 1941, Polen seit zwei Jahren von den Deutschen besetzt. Bei den Nazis reiften die Pläne einer physischen Vernichtung der Juden in dem Gebiet, das sie als „Generalgouvernement“ bezeichnet hatten und zu dem Tarnów gehörte.

Zu diesem Zeitpunkt machten sich die Wiener Anthropologinnen Dora Maria Kahlich und Elfriede Fliethmann auf, um mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Instituts für Ostarbeit in Krakau und unter tätiger Mithilfe der örtlichen SS „typische Rassenmerkmale“ sogenannter Ostjuden zu dokumentieren und ihrer Forschung mithilfe der Fotos dienlich zu machen. Sie fuhren nach Tarnów, einer Stadt von 25.000 Einwohnern, etwa die Hälfte davon Juden.

„Eines Tages mussten wir zu den Deutschen zum Fotografieren gehen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Sie nahmen uns alle nackt auf.“ Rachela Goldstein (1922–2017) zählte zum Kreis der insgesamt 26 Überlebenden dieser abscheulichen Bildergalerie. Margit Berner ist es in jahrelanger Arbeit gelungen, einige von ihnen und ihre Nachfahren zu kontaktieren.

Bilder der unbekannten Großeltern

Simon Engelhardt, der Sohn von Rachela Goldstein-Engelhardt, schreibt: „Es ist unglaublich, von meinen Großeltern, Tanten und Onkeln, die ich nie zuvor gesehen habe, Fotos in Händen zu halten.“ So haben diese von dem Fotografen Rudolf Dodenhoff gemachten Bilder, angefertigt zum wissenschaftlichen Beleg von Rassismus und Antisemitismus, doch noch einen Sinn gewonnen.

Vor allem aber zeigen die Umstände ihres Zustandekommens, wie Wissenschaft funktionieren kann. Rassistische Vorstellungen waren schon in den 1920er Jahren tief in die Anthropologie eingedrungen, „Rassenlehre“, die nach „Herrenrasse“ und „Unterrassen“ forschte, galt an einigen deutschen Institutionen als seriöse Wissenschaft. So richtig blühte das Geschäft dieser Rassisten aber erst mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten auf. „Rassenkunde“ avancierte nun zur ideologischen Grundlage des Staates, schon Schulkinder sollten lernen, zwischen „Rassen“ zu ­unterscheiden.

Goldene Zeiten für die Anthropologinnen Dr. Dora Maria Kahlich und Dr. Elfriede Fliethmann, zumal ihre Chefs zur Wehrmacht eingezogen worden waren und damit einer Karriere wenig im Wege stand.

„Übrigens könnten wir ruhig noch einmal ein paar Tage nach Tarnów fahren und das Material vervollständigen. Die Fleischtöpfe Tranós müssten Sie doch auch locken“, schrieb Fliethmann am 13. Mai 1942 an Kahlich, wohl wissend, dass es für Juden in dieser Stadt kein Fleisch mehr gab – stattdessen Enteignung, Kennzeichnung, Plünderung, Verelendung und Mord. „In Galizien kann ich auch keine Juden mehr untersuchen. Von den Tarnówern sind im Ganzen noch 8.000 da. Unser Material hat also heute schon Seltenheitswert“, schrieb sie Anfang Oktober 1942, durchaus informiert, dass mit dem Einsetzen der „Aktion Reinhardt“ der Massenmord an den polnischen Juden begonnen hatte.

Eine „wissenschaftliche“ Auswertungen der „Forschungen“ von Tarnów kam infolge der Kriegsereignisse nicht mehr zustande. Die Papiere und Fotos des Projekts verschwanden in Archiven in Krakau, Berlin, Wien und Washington, D. C.

Von den Tarnówer Juden überlebten nur sehr wenige. Die meister der Mörder wurden niemals verfolgt. Dora Maria Kahlich, seit 1932 Mitglied der NSDAP, wurde nach dem Krieg aus dem Universitätsdienst entlassen und arbeitete als gerichtsmedizinische Gutachterin für umstrittene Vaterschaften. Sie starb 65-jährig 1970 in Wien. Elfriede Fliethmann, auch sie NSDAP-Mitglied, wurde Sozialpädagogin in Westberlin. Sie verstarb 1987.

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