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Zahlen steigen, Politik wartet

Die Zahl der Neuinfektionen steigt weiter exponentiell, der bisherige Höchststand von Weihnachten dürfte bald übertroffen werden. Und das liegt leider nicht primär daran, dass mehr getestet wird. Auch auf den Intensivstationen nimmt die Zahl der Corona-Patient*innen wieder zu. Doch die Politik bleibt untätig

Von Malte Kreutzfeldt

In der Politik ist gerade Abwarten angesagt: Kanzlerin Angela Merkel wartet, ob die Mi­nis­ter­prä­si­den­t*in­nen sich irgendwann doch noch bequemen, die gemeinsam betroffenen Beschlüsse umzusetzen. Viele dieser Mi­nis­ter­prä­si­den­t*in­nen warten, ob die Zahl der Neuinfektionen nicht trotz offener Schulen und Geschäfte von alleine wieder fällt, wenn irgendwann ausreichend Schnelltests zur Verfügung stehen. Und viele Menschen warten noch ab, ob die Lage wirklich so bedrohlich wird, dass sie ihre Kontakte auch ohne staatliche Vorgaben wieder stärker einschränken.

Doch unterdessen wachsen die Infektionszahlen mit unvermindertem Tempo weiter. Seit dem zwischenzeitigen Tiefststand Mitte Februar hat sich die Zahl der täglich gemeldeten Fälle wieder mehr als verdoppelt. Der wöchentliche Mittelwert liegt aktuell bei rund 16.700 pro Tag; in den letzten beiden Wochen stieg dieser Wert pro Woche um 25 bis 30 Prozent.

Die zunächst von manchen gehegte Hoffnung, dass dieser Anstieg vor allem daran liegt, dass deutlich mehr Schnelltests gemacht würden, seit diese kostenlos angeboten werden, hat sich nicht bestätigt. Eine bundesweite Ausweitung zur Zahl der Schnelltests gibt es zwar entgegen der Ankündigung des Robert-Koch-Instituts noch immer nicht. Doch Zahlen aus einzelnen Bundesländern zeigen, dass zusätzliche Schnelltests nur einen kleinen Teil des Anstiegs der Neuinfektionen erklären können; in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz etwa sind es weniger als 10 Prozent.

Der Großteil des beobachteten Wachstums liegt also nicht daran, dass bei gleichbleibender Zahl von Neuinfektionen mehr entdeckt würden, sondern daran, dass es tatsächlich mehr Infektionen gibt. Das ist inzwischen auch in den Kliniken zu sehen: Die Zahl der Coronapatient*innen, die auf Intensivstationen behandelt werden müssen, steigt seit zweieinhalb Wochen wieder deutlich an. Mit aktuell knapp 3.600 Coronapatient*innen belegen diese zwar nur 18 Prozent der zur Verfügung stehenden Intensivbetten, doch das kann sich schnell ändern. Denn auch die Zahl der Corona-Intensivpatient*innen wächst derzeit exponentiell, wenn auch mit einem wöchentlichen Anstieg von 13 Prozent nur etwa halb so schnell wie die Zahl der Neuinfektionen.

Weiterhin rückläufig ist dagegen die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion sterben. Der Rückgang hat sich zwar stark verlangsamt; nachdem der 7-Tage-Mittelwert in der vergangenen Woche bereits stagniert hatte, liegt er aktuell mit rund 160 Toten pro Tag aber wieder um 13 Prozent niedriger als vor einer Woche. Zum Vergleich: Beim Höhepunkt der ersten Welle im vergangenen April starben im Schnitt 230 Menschen pro Tag, der Höchstwert der zweiten Welle lag Mitte Januar bei knapp 900.

Grund für diese unterschiedliche Entwicklung ist die veränderte Altersstruktur der Infizierten. In der ersten und zweiten Welle waren es die ältesten Jahrgänge, die am stärksten betroffen waren. Und in dieser Gruppe gibt es besonders viele schwere Verläufe. Doch Menschen über 80 sind mittlerweile zu einem großen Teil geimpft, sodass dort die Infektionen und Erkrankungen stark zurückgegangen sind.

Stattdessen ist die höchste Inzidenz jetzt in den Altersgruppen von 15 bis 50 zu sehen, die viele Kontakte haben, aber bisher kaum geimpft sind. Bei ihnen treten prozentual weniger schwere Verläufe auf – und damit auch Intensiv- und Todesfälle. Doch das heißt nicht, dass die Erkrankung harmlos verläuft: Ex­per­t*in­nen gehen davon aus, dass bis zu 10 Prozent der Erkrankten in dieser Altersgruppe langfristige Gesundheitschäden davontragen.

„Wenn die Regeln gelockert werden, verändern die Menschen auch in anderen Bereichen ihr Verhalten“

Dirk Brockmann, Physiker an der Humboldt-Universität und am Robert-Koch-Institut

Doch warum steigt die Zahl der Neuinfektionen so stark, obwohl sich Deutschland offiziell noch immer in einem Lockdown befindet? Der wichtigste Grund ist, dass es sich quasi um eine neue Pandemie handelt. Die zuerst in Großbritannien aufgetretene Virusmutation B.1.1.7 ist inzwischen für über 80 Prozent der Fälle verantwortlich. Weil sie mindestens 30 Prozent stärker ansteckend ist, wäre auch bei gleichbleibenden Bedingungen aus dem Rückgang zu Jahresbeginn im Laufe des Frühjahrs wieder ein Anstieg geworden.

Doch statt auf diese absehbare Entwicklung mit schärferen Maßnahmen zu reagieren, wurden diese sogar gelockert, vor allem durch mehr Präsenz in Schulen und Kitas und die Öffnung von Geschäften. Noch entscheidender sind nach Ansicht des Physikers Dirk Brockmann aber die Veränderungen im Privatbereich, die damit einhergehen. Brockmann leitet eine Arbeitsgruppe beim Robert-Koch-Institut, die den Verlauf von Epidemien modelliert. „Wenn die Regeln gelockert werden, verändern die Menschen auch in anderen Bereichen ihr Verhalten“, sagt der Professor der Berliner Humboldt-Universität der taz. „Vor einem Jahr waren die Spielplätze und die Autobahnen leer, jetzt sieht es überall aus wie immer.“

Dass die Infektions- und Intensivzahlen in den nächsten Wochen weiter steigen, ist absehbar. Bei der aktuellen Wachstumsrate würde der bisherige Höchstwert bei den Neuinfektionen in zwei Wochen übertroffen, auf den Intensivstationen in etwa vier Wochen. Doch wie hoch die Zahlen tatsächlich steigen, ist schwer vorherzusehen, meint Modellierer Brockmann. „Langzeitprognosen sind schwierig, weil die Gesellschaft ja auf die Entwicklung antwortet.“ Zum einen sei ein Eingreifen der Politik spätestens dann unvermeidlich, wenn die Intensivstationen wieder überlastet sind. Zum anderen schränkten Menschen ihre Kontakte auch von allein wieder ein, wenn sie die Situation wieder als bedrohlich empfinden.

Doch bis es so weit ist, wollen Politik und Gesellschaft offenbar erst noch abwarten, bis die Probleme so groß sind, dass sie wirklich von niemandem mehr zu übersehen sind.