Mit Schlingerkurs Richtung Ostern

Regierungschef Müller räumt wie die Kanzlerin Fehler ein und setzt gegen steigende Infektionen auf mehr Tests und Impfungen

Eine Notbremsung mag Regierungschef Müller nicht hinlegen – trotz hoher Inzidenzwerte über 100 Foto: Paul Langrock

Von Stefan Alberti

FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja brachte die Sache am Donnerstagmorgen im Abgeordnetenhaus auf den Punkt: „Es bleibt die Frage: Was nun, Herr Regierender Bürgermeister?“ Denn der Angesprochene, SPD-Mann Michael Müller, hatte zwar eine mehr als halbstündige Regierungserklärung abgegeben, in Merkel-Manier Fehler eingestanden, sich entschuldigt und skizziert, was Berlin nicht machen werde oder was vielleicht sein könnte. Aber wie es konkret nach der Absage der „Osterruhe“ weitergeht – vor allem mit der Corona-Notbremse angesichts steigender Infektionen –, ließ er offen.

Wer am Mittwoch Angela Merkels Kurzpressekonferenz miterlebte, hatte im Parlament ein Déjà-vue: Wie die Kanzlerin übte Müller Selbstkritik. „Es gibt einen großen Vertrauensbruch zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land und den politisch Verantwortlichen“, sagte er. „Auch ich habe dazu beigetragen, dass es diese Verunsicherung gibt, und das tut mir leid.“

Er sei wie andere davon ausgegangen, dass die Osterruhe ein Baustein im Kampf gegen die dritte Coronawelle sein könne. „Das war eine Fehleinschätzung“, sagte Müller, der es jedoch ablehnte, die in die Kritik geratenen Treffen von Ministerpräsidenten und Kanzlerin abzuschaffen. Aus seiner Sicht müsse sich aber an der derzeitigen Form – mit Nachtsitzungen und kurzfristig auf den Tisch kommenden Vorlagen – etwas ändern. Dabei forderte Müller auch mehr Vertraulichkeit.

Wie es konkret in Berlin weiter geht, will der Senat, der schon am Mittwochabend außerplanmäßig getagt hatte, offenbar erst bei einer weiteren Sondersitzung am Samstag klären. Müllers Worte ließen allerdings bereits erkennen, dass es in Sachen „Corona-Notbremse“ nicht zu den eigentlichen von Ministerpräsidenten und Kanzlerin vereinbarten Wegfall der Anfang März ermöglichten Lockerungen kommen wird.

Die Notbremse sollte automatisch greifen, wenn in einer Region oder einem Landkreis der Inzidenzwert – die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche – an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 100 liegt. Das war in Berlin bereits am Dienstag und Mittwoch so – und am Donnerstag zeigte der um 16 Uhr veröffentlichte Corona-Lagebericht einen Wert von 125,3 an.

Statt alles zurückzufahren, setzt Müller offenbar darauf, durch mehr Tests und verstärktes Impfen die Lage auch ohne Rücknahme in den Griff zu bekommen: „Ich glaube, dass es kein gangbarer Weg ist, jetzt wieder alles zurückzudrehen, was wir uns in den letzten Tagen und Wochen an Möglichkeiten und Freiheiten erkämpft haben“, so Müller.

Neben allem Entschuldigen und Fehler-Eingestehen sah Müller Berlin aber nicht hintendran in der Pandemiebekämpfung: „Wir sind besser und schneller als andere Bundesländer.“ Zudem relativierte der Regierungschef auch die gegenwärtigen Einschränkungen: „Es ist kein harter Lockdown, in dem wir uns jetzt befinden“, sagt er – was aus der Opposition den Zwischenruf auslöste: „Das erzählen Sie mal den Gastronomen.“

Innensenator Andreas Geisel ist zwar nicht wie sein Staatssekretär Torsten Akmann (beide SPD) der Ansicht, dass Friedrichshain-Kreuzberg einer Bananenrepublik ähnelt. Inhaltlich aber stimmte er ihm zu: „Die Wortwahl wäre nicht meine, aber in der Sache sind wir uns da einig“, sagte Geisel in der Fragestunde. Seine eigene Formulierung: Der Bezirk bewege sich „an der Grenze der Rechtsstaatlichkeit“. Hintergrund ist der Streit über Brandschutz in der Rigaer Straße 94. Akmann hatte gesagt, so etwas gebe es nur in Friedrichshain-Kreuzberg, das erinnere stark an eine „Bananenrepublik“. Über das Verhalten von Grünen-Baustadtrat Florian Schmidt sei er „fassungslos“. (sta)

Müller stützte seine Einschätzung auf die geöffneten Schulen und darauf, dass 70 Prozent der Bürger arbeiten könnten. Zudem gebe es Kontaktmöglichkeiten und keine Ausgangssperren. Im Vergleich zu viel rigideren Maßnahmen wie in Frankreich oder Spanien, wo Kinder teilweise über Wochen nicht rausdurften und der Bewegungsradius stark beschränkt war, hatte der Regierungschef durchaus recht.

Er wiederholte die schon nach der Senatssitzung am Dienstag angekündigte Pflicht für Unternehmen, den Beschäftigten Tests anzubieten. Das ist für Müller, der früher mit seinem Vater eine kleine Druckerei führte, nicht bloß in großen Betrieben möglich: „Jeder kleine Handwerker kann für seine drei Gesellen Schnelltests organisieren und die in der Mittagspause machen.“ Der Unternehmensverband UVB lehnte das per Pressemitteilung sofort ab: Ein solcher Berliner Sonderweg würde in der Wirtschaft für noch mehr Verunsicherung sorgen.

Kultursenator Klaus Lederer (Linke) berichtete später von erfolgreicher Versuchen mit einem Konzert und einer Theateraufführung vor durchgetestem Publikum. Am Mittwochabend hatten Berlins Bundesligavolleyballer von den BR Volleys probeweise erstmals seit mehreren Monaten vor rund 800 Fans mit negativem Testergebnis gespielt. Grünen-Fraktionschefin Silke Gebel, die seit Monaten gebetsmühlenartig mehr Tests fordert, schlug mit Blick auf die anstehenden Feiertage vor: „Lassen Sie uns alle zu Testern werden – das wäre die beste Osterüberraschung, die wir uns allen machen können.“