Die getriebene Treiberin

Angela Merkel hat 2011 den Atomausstieg nach dem GAU von Fukushima angeordnet und die Konservativen überrumpelt, so das Narrativ. Aber das ist nur eine Legende der Rechtskonservativen

Anti-Atom-Protest im April 2011 vor dem Kanzleramt mit Pappmachéköpfen von Kanzlerin Merkel und Umweltminister Röttgen Foto: Imago

Von Stefan Reinecke

Fukushima ist neben dem Flüchtlingsherbst 2015 das zentrale Kapitel für die Merkel-Erzählung, die sich eingebürgert hat. Die postideologische Macherin wirft leichthändig konservative Glaubenssätze über Bord, umarmt und erstickt die Opposition. Fukushima sei ein Schlüsselmoment, in dem Merkel der Union die „Anpassung an den rot-grünen Zeitgeist“ verordnete, so der CDU-Historiker Andreas Rödder. Merkel, die Mächtige, hat danach im März 2011 die Union zu einem abrupten Kurswechsel genötigt und die Grünen an die Wand gedrückt. So das Narrativ. Daran ist nicht alles falsch. Aber hatte sie nicht wenigstens einen Koch dabei?

Im Dezember 2010 verlängerte Schwarz-Gelb die Laufzeit der deutschen AKWs um knapp 200 Betriebsjahre. Der Atomindustrie winkte dadurch ein Extra­profit von bis zu 100 Milliarden Euro. Die Kanzlerin hatte gezögert, dann aber Lobbyinteressen nachgegeben. Nur zwölf Wochen später verkündet sie, dass die sieben ältesten deutschen AKWs sofort abgeschaltet werden. An diesem 14. März 2011 steht FDP-Vizekanzler Guido Westerwelle neben ihr. Er klingt genauso wie seine Chefin. Fukushima ändere alles, man brauche ein Moratorium, dann eine schnellere Energiewende. Das Wort Moratorium hatte Westerwelle schon vor dem Auftritt verlauten lassen. Er treibt, die Kanzlerin ist zögerlich.

Wesentlich für das Wendemanöver der Union ist einer, von dem man es am wenigsten erwartet hätte. Stefan Mappus, CDU-Ministerpräsident in Baden-Württemberg, ein jungkonservativer Merkel-Kritiker, dem die ganze Richtung zu liberal ist. Mappus, der auch mal den Christopher Street Day als „abstoßend“ abkanzelt, ist eine Hoffnung der CDU-Rechten. Und mit der Atomindustrie verwoben.

In Baden-Württemberg stehen Wahlen an. Als klar ist, dass in Fukushima ein GAU passiert, drängt Mappus die Kanzlerin mit Blick auf die Wahlen, schnell etwas zu tun. Man einigt sich darauf, alte Atomkraftwerke stillzulegen. Erst Neckarwestheim, dann Philippsburg. Denn die Stimmung kippt – auch bei UnionswählerInnen. Ende März lehnen 72 Prozent der Deutschen die Nutzung der Atomkraft ab. In keinem anderen Bundesland stehen so viele alte Meiler wie im Ländle. Am Abend des 13. März beschließt Schwarz-Gelb – Merkel, Seehofer, Kauder, Westerwelle – das Ende der Atomkraft in Deutschland.

Hätte Merkel gegen den Atomlobbyisten Mappus, gegen die FDP, die Mehrheit der UnionswählerInnen, SPD und Grüne und die Stimmung im Land am Kurs der Laufzeitverlängerung festhalten können? Wohl kaum. Dass Merkel der widerspenstigen Union rabiat einen neuen Kurs aufgenötigt hat, ist eine Legende der Rechtskonservativen.

Treibt die Kanzlerin in den Tagen nach Fukushima den endgültigen Ausstieg voran? Oder wird sie getrieben? Beides. Merkel war nie eine Kritikern der Atomkraft. Im Jahr 2000 hatte sie den rot-grünen Atomausstieg als „Ideologie“ bekämpft. Doch Fukushima hält sie für eine Zäsur. „Das war’s“, soll sie Vertrauten gesagt haben, als sie die Bilder des zerstörten Reaktors sah. Die Ruine Laufzeitverlängerung zu verteidigen, wäre machtpolitisch riskanter gewesen, als sie abzureißen. Deshalb wird Merkel, die sonst gern im Vagen bleibt, deutlich. Fukushima zeige, „dass das nach wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich Gehaltene“ doch passieren könne.

Merkels zentraler Missgriff war nicht die „Anpassung an den rot-grünen Zeitgeist“, sondern der kurzsichtige Bruch mit dem rot-grünen Atomausstieg

Die Wende in der Atompolitik zahlt fortan bei Merkel ein. Die Kritik kommt fortan von Rechtskonservativen, die ihr Anpassung an die Grünen vorwerfen und Mappus’Rolle ausradieren. Die nötige Kritik an Merkel hingegen – der Staat muss wegen dieser Rolle rückwärts Entschädigung an die Atomkonzerne zahlen – bleibt leise. Merkels Fehler fallen gnädigem Vergessen anheim. Grüne und SPD arbeiten fortan konstruktiv an der Energiewende mit.

Merkels zentraler Missgriff war nicht die „Anpassung an den rot-grünen Zeitgeist“, sondern der kurzsichtige Bruch mit dem rot-grünen Atomausstieg und die Laufzeitverlängerung. Danach handelte sie wie eine Getriebene ihrer eigenen Fehler. Das aber wird ihr später nicht als Malus angerechnet. Sie gilt ja als jene, die die AKWs ausgeknipst hat.

Im Jahr 2013 verfehlt die Union nur knapp eine absolute Mehrheit. Der Kanzlerin ist es gelungen, eigenes Versagen in einen Imagevorteil zu verwandeln und die Mitte zu besetzen. Handwerklich gesehen ist das ein Meisterstück. Für die politische Kultur, die in sich stimmiges Handeln belohnen sollte, ist es eine Niederlage.