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heute auf zoom„Die Opfer wurden weiter stigmatisiert“

privat

Dagmar Lieske, Jg. 1978, Historikerin hat über „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen promoviert

Interview Petra Schellen

taz: Frau Lieske, hat der NS-Staat die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ erfunden?

Dagmar Lieske: Nein. Das dauerhafte Wegsperren bestimmter Personen wurde schon im Kaiserreich diskutiert und war auch in der Weimarer Republik populär. Der NS-Staat hat sie aber wesentlich weiter ausgelegt.

Das heißt?

Dass Personen allein aufgrund ihrer Vorstrafen und nach der Verbüßung einer Haftstrafe dauerhaft interniert werden konnten. Und zwar aufgrund „polizeilicher Vorbeugehaftregelungen“, die ab November 1933 Überwachung, Zwangskastration und Deportation ins KZ erlaubten. Und zwar, bevor die Person eine weitere Straftat oder überhaupt eine Straftat beging. Das betraf anfangs einen kleinen Personenkreis. Später wurde es ausgedehnt bis zur Verfolgung so genannter „Asozialer“, wo ein Verhalten, das nicht in die NS-Vorstellung von Gemeinschaft passte, zu solchen Strafen führen konnte.

Welche Gruppen betraf das?

Sinti und Roma, Sexarbeiterinnen sowie Menschen, die Abtreibungen vornahmen. Auch wegen verschiedener, vor allem Eigentumsdelikte Vorbestrafte sowie Menschen, die als Bettler oder Obdachlose galten. 1.400 solcher Personen hat etwa die Hamburger Kriminalpolizei 1933 bei einer Razzia verhaftet.

Wie fand man die Opfer?

Die Vorbestraften waren teils polizeibekannt, andere wurden denunziert. Dabei hatte die Kripo Handlungsspielräume, wen sie der „Leitstelle“ meldete. Anfangs musste sie belegen, dass ein „Berufsverbrecher“ drei Vorstrafen hatte, später nicht mehr.

Später regierte die Willkür?

Es gab durchaus ein gewisses Maß an Willkür – und inhaltliche Schwerpunkte. Die Hamburger Kripo hat im Herbst 1935 Stricherjungen und weibliche Prostituierte verhaftet. Auch Sinti und Roma wurden auf die Deportationslisten gesetzt – in Hamburg durch eine „Zigeunerstelle“, die Kurt Krause leitete. Er wurde 1945 als „entlastet“ eingestuft und war bald wieder im Dienst.

Worin unterschied sich die Rolle der Kripo von der der Gestapo?

Vor allem darin, dass man die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ der Kripo lange nicht als NS-Verbrechen sah. Wohingegen die Gestapo sofort nach 1945 als Akteurin von NS-Verbrechen benannt wurde.

Gab es nach 1945 Verfahren gegen Kripo-Täter?

Einzelne, aber die meisten kehrten in den Polizeidienst zurück. Einige, die an den „Einsatzgruppen“ in der damaligen Sowjetunion beteiligt waren, wurden verurteilt oder begingen Suizid wie Hamburgs Kripo-Chef Walter Bierkamp. Er hatte in der Sowjetunion 60.000 Morde befohlen.

Online-Vortrag „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“: 18 Uhr, via Zoom. Anmeldung bis 13 Uhr, per Mail an katharina.moeller@gedenkstaetten.hamburg.de

Hatten die Kripo-Opfer eine Lobby?

Nein. Sie wurden nach 1945 oft weiter stigmatisiert. Die Gedenkstätten bezogen sie ab den 1980er-Jahren ein. Aber im Entschädigungsgesetz waren sie nicht aufgeführt. Erst 2020 beschloss der Bundestag, sie als NS-Opfer anzuerkennen.

Um wie viele Opfer handelt es sich?

Schätzungen zufolge wurden reichsweit 70.000 Menschen als „asoziale Berufsverbrecher“ verfolgt. Konkrete Zahlen zu einzelnen Städten fehlen.

Eine Folge der Marginalisierung der Opfer?

Auch. Einerseits haben sich die Überlebenden nicht so stark in die Erinnerungskultur eingebracht – was auch an der Stigmatisierung in den Familien liegt. Dazu kommen die Ausgrenzung innerhalb der Überlebendenverbände und das Desinteresse der Gesamtgesellschaft.

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