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„Wir wollten handeln“

Mit dem Umweltschutz wollte er nicht warten, bis die Grundlagenforschung so weit wäre. Deshalb hat der Meeresbiologe Peter Richert im schleswig-holsteinischen Ascheffel vor 33 Jahren die biodynamisch wirtschaftende „Lebensgemeinschaft Hof Saelde“ für erwachsene Menschen mit Behinderung gegründet

Interview Petra Schellen

taz: Herr Richert, warum haben Sie den Hof Saelde gegründet?

Peter Richert: Das ist eine lange Geschichte. Eigentlich bin ich Meeresbiologe und habe auch einige Jahre am Kieler Institut für Meereskunde gearbeitet, dem heutigen Geomar. Ich war im Klimabereich tätig, wo man vor allem Grundlagenforschung betrieb. Irgendwann hat mir das nicht mehr gereicht.

Inwiefern?

Klimafragen, Umweltschutz – das waren damals, in den 1970er-Jahren, für uns Studenten und junge Wissenschaftler sehr wichtige Themen. Und wir wollten handeln, statt alles erst mal langwierig und gründlich zu erforschen. Wir haben überlegt: Was können wir tun? Und letztlich bin ich dann in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft gelandet.

Was heißt „gelandet“?

Wir – einige Lehrer der parallel gegründeten Waldorfschule Eckernförde und einige Waldorfkindergärtnerinnen aus dem Umfeld der anthroposophischen Bewegung – haben, finanziell unterstützt durch Banken und die Aktion Mensch, einen Verein gegründet und ein Stück Land gekauft.

Wie haben Sie den Hof aufgebaut?

Die alte Hofstelle, die wir kauften, war nicht groß, 25 Hektar vielleicht. Wir haben viel um- und neugebaut und natürlich ganz neu anfangen müssen, um auf Demeter-Produktion umzustellen. Damals gab es noch keine öffentlichen Gelder für die Umstellung auf biologisch-dynamische Landwirtschaft, denn die Grünen hatten noch nicht viel Einfluss in der Politik. Die Umbauten konnten wir allerdings mit Unterstützung der damaligen SPD-Landesregierung vornehmen, die neue Standards im Tierwohl setzen wollte. Unsere Fläche haben wir später durch Zukäufe auf rund 80 Hektar vergrößert.

Wollten Sie den Hof von Anfang an gemeinsam mit Menschen mit Behinderung betreiben?

Ja, das war immer die Idee: dass die Hilfebedürftigen mit hier wohnen sollten – Mitarbeiter und die Hilfebedürftigen „unter einem Dach“. Heute ist das allerdings ein auslaufendes Modell, denn nach dem neuen Bundesteilhabegesetz sollen die Behinderten selbstständig wohnen. Die Fürsorgepflicht, die wir damals als wichtig empfanden, ist politisch nicht mehr erwünscht.

Wie haben Sie damals die ersten Bewohner gefunden?

Durch Mundpropaganda: Wir haben in die Welt gesetzt: Wir sind hier, und nun könnt ihr kommen.

War der Andrang groß?

Nein. Es waren immer Einzelfälle, und die waren oft nicht einfach. Wenn die Behörden keinen anderen Ort fanden, schickten sie die Leute zu uns.

Welches Lebens- und Wohnmodell bieten Sie an?

Letztlich ist es eine Alternative zur Kombination „Werkstatt für Menschen mit geistiger Behinderung“ plus Wohnheim. Viele wohnen auch zu Hause – was nicht ganz einfach ist: Die Angehörigen kommen schnell an die Grenzen. Aber Eltern hängen nun mal an ihren Kindern ...

Welche Art von Behinderung haben die Menschen, die bei Ihnen leben?

Die 20 Menschen, die wir beherbergen können, haben geistige und Mehrfach-Behinderungen. Aber sie sind nicht körperlich behindert. Schließlich sollen sie sich hier auf dem Gelände frei bewegen können und auch in Landwirtschaft, Gärtnerei, Bäckerei mitarbeiten.

Gibt es noch Bewohner der ersten Stunde?

Ja. Einige wohnen seit der Hofgründung hier und sind inzwischen ältere Herren.l

Wie ist die Altersspanne?

Der Jüngste ist gerade 19 geworden, der älteste 55, also fast schon Rentner. Aber arbeiten darf hier jeder, solang er will. Und die meisten wollen.

Aber Sie werfen niemanden raus, weil er nicht mehr arbeiten kann?

Deswegen nicht. Allerdings kommen wir an unsere Grenzen, wenn erhöhte Pflege nötig ist. Bis zu Pflegegrad drei von fünf möglichen können wir das leisten. Das ist aufwendig, aber wir haben genügend und gutes Personal, sodass wir das schaffen.

Ist Ihr Hof eigentlich Komplett-Selbstversorger?

Komplett nicht. Aber wir haben eine Rinderherde – es gibt also Fleisch und Milch. Außerdem halten wir Hühner, bauen Gemüse an und Getreide, das wir über eine kleine Müllerei verarbeiten. Dann geht es in unsere Bäckerei. Wir funktionieren wie eine Dorfgemeinschaft im Kleinsten. Wie früher im Dorf haben wir hier fast alle Gewerke.

Gibt es feste Arbeitszeiten?

Ja. Und eine ganz klare Tagesstruktur. Das geht für die ersten, die im Stallbereich tätig sind, um 6.30 Uhr los. Die nächsten kommen um neun Uhr und bereiten das Frühstück vor. Dann wird abgewaschen und so weiter – alles wie in einem normalen Haushalt eben.

Verrichtet jeder immer dieselbe Arbeit?

Sie dürfen durchaus wechseln, aber die meisten machen gern immer dasselbe. Das beherrschen sie, da sind die Könige, da lassen sie sich nicht reinreden.

Gibt es auch angeleitete Freizeit?

Ja, einen Singkreis und Körbeflechten zum Beispiel. Da das aber externe Anbieter machen, ist das zurzeit wegen Corona reduziert. Dazu kommen Ausflüge, im Moment nur in die nähere Umgebung – aber wir leben ja in einer reizvollen Landschaft, und die Ostsee ist nicht weit …

Und wie finanziert sich das Ganze?

Durch die Sozialhilfe beziehungsweise Grundsicherung, die die Bewohner beziehen. Davon zahlen wir Miete und landwirtschaftliche Tätigkeiten. Auch das Personal unserer pädagogischen Maßnahmen wird über die Sozialhilfeträger bezahlt. Im Einzelnen ist das allerdings Verhandlungssache.

… und das alles mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft.

Peter Richert

75, Meeresbiologe, hat 1987 gemeinsam mit seiner Frau den Hof Saelde, die „Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für erwachsene Menschen mit Hilfebedarf“ in Ascheffel/Schleswig-Holstein gegründet.

Ja, wir sind ein anerkannter Demeter-Betrieb. Wir haben gleich 1987 angefangen, biologisch-dynamisch zu wirtschaften. Das wird regelmäßig überprüft, und dann bekommt man eine jährliche neue Anerkennung durch die Bäuerliche Gesellschaft Demeter im Norden, der wir angehören. Dazu kommt die EU-Kontrolle.

Demeter-Produktion ist teurer als konventionelle. Trägt sich der Hof trotzdem?

Wir verkaufen vor allem Fleisch, weil wir da gute Erträge haben. Demnächst werden wir auch unsere Eierproduktion ausbauen. Die Postlotterie hat uns gerade ein Hühnermobil gespendet. Das sind Hühnerställe, die man verschieben kann.

Ställe? Laufen Demeter-Hühner nicht frei und glücklich durch die Gegend?

Ja, aber nicht nachts. Und wenn sie legen sollen, schon gar nicht. Sonst legen sie die Eier irgendwohin, wo man sie nicht findet. Aber danach haben sie natürlich freien Auslauf. Und genau dafür ist das Mobil da. Damit kann man die Tiere woanders hinfahren, wo sie neues, frisches Gras finden. Es ist, als ob man mit einem Wohnmobil herumführe und immer neue Landschaften hätte.

Auf Ihrem Gelände steht auch ein Friedenspfahl. Was bedeutet er?

Es ist einer von weltweit 250.000 Friedenspfählen, unterstützt von der World Peace Prayer Society. Die Idee stammt von dem japanischen Philosophen und Friedenskämpfer Masahisa Goi, der 1969 an verschiedenen Orten Aufkleber mit einem Friedensgebet anbrachte. Der erste „richtige“ Friedenspfahl wurde dann in den 1970er-Jahren aufgestellt.

Seit wann steht er bei Ihnen?

Wir haben den 4,50 Meter hohen Eichenpfahl, den uns der Besitzer des benachbarten Waldes geschenkt hat, 2017 zu unserem 30-jährgen Jubiläum aufgestellt. Daran hängen Schilder mit Friedenswünschen in verschiedenen Sprachen. Der Pfahl soll Sinnbild für den Frieden und ein respektvolles Miteinander sein und heißt „Friedenspfahl Kaspar Hauser“.

Warum das?

Weil Kaspar Hauser unser Schutzgenius ist. Der Geschichte nach wurde er ja als Kleinkind eingesperrt, von allen Umwelteinflüssen abgeschirmt und ist erst als 16-Jähriger, wohl geistig Zurückgebliebener, in Nürnberg aufgetaucht. Er teilt das Schicksal hilfsbedürftiger Menschen.

Und warum haben Sie Ihren Hof „Saelde“ genannt?

„Saelde“ ist ein Begriff aus dem mittelhochdeutschen Parzival-Epos und bedeutet Glückseligkeit, Seelenheil. Ich finde, das passt gut, denn auch Parzival stolpert als Dummer, als Tor durch die Welt – wie wir auch, ob behindert oder nicht. Aber wie Parzival lernen wir dazu: In der Jugend kommen Zweifel an der Welt auf. Die muss man durchleben, und irgendwann kommt hoffentlich die Erfahrung, dass man mit allem in Harmonie und glückselig ist im Sinne von „saelde“. Dass man sich in der Welt, an einem Ort zu Hause fühlt. Und ich glaube, einige unserer Bewohner empfinden das auch so.

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