Vendée Globe als Massenevent: Boris ­- ein Wintermärchen

Boris Herrmann hat ein pandemiegeplagtes Publikum auf seine Soloregatta mitgenommen. So hat er den Segelsport aus der medialen Nische herausgeführt.

Segler Herrman winkt bei der Einfahrt in der Hafen

Ankunft: Nach gut 28.000 Seemeilen in Einsamkeit darf Boris Herrmann wieder unter Leute Foto: PanoramiC/imago

BERLIN taz | Ein verrücktes Rennen. Eine Regatta um die Welt. Ein extremes Abenteuer. Stürme, Wellenberge, Kälte, Hitze und Flaute. Wochenlange Einsamkeit, Schlafmangel. Materialbruch, Gefahr, Verzweiflung. Ständig Krach und Schaukelei. Mittendrin: der 39-jährige Boris Herrmann aus Hamburg. Er erfüllt sich mit der Teilnahme an der Regatta Vendée Globe, die manche den „Everest der Meere“ nennen, einen Traum. Er nimmt als erster Deutscher an dieser härtesten Regatta der Welt teil. Sie hat in Frankreich Kultstatus. Zehn Jahre hat Herrmann darauf hingearbeitet. Sein Ziel ist, ins Ziel zu kommen.

Mit ihm sind 32 Männer und Frauen am 8. November im westfranzösischen Les Sables-d’Olonne zu dieser Solo-Weltumsegelung gestartet. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag kommen die ersten Skipper nach mehr als 28.000 Seemeilen zurück. Acht mussten bisher aufgeben, einer hat sein Schiff verloren und wäre fast ertrunken. Boris Herrmann hat die ganze Zeit vorsichtig gesegelt. Er wollte unbedingt ankommen, ein Sieg schien ohnehin abwegig.

90 Seemeilen vor dem Ziel liegt er an dritter Stelle, der zweite Platz ist greifbar, vielleicht sogar noch der erste. Doch dann rammt er in der Dunkelheit einen spanischen Fischtrawler. Seine Alarmsysteme und sein Radar haben ihn nicht gewarnt. Ein Schock. Das Boot ist beschädigt, aber nicht leck. Der Mast steht noch, notdürftig kann er gestützt werden. Herrmann kann nur noch langsam weiterfahren. Am Donnerstagmittag erreicht Herrmann dann das Ziel – als fünfter. Dem verpassten Podiumsplatz trauert er nicht lange nach.

Er ist ein außergewöhnlich guter Segler. Doch zeichnen ihn auch andere Fähigkeiten aus. Die meisten Segler sind eher wortkarg, doch Herrmann ist eloquent und versteht etwas von moderner Kommunikation. Erstmals wurde er über Segelkreise hinaus bekannt, als er 2019 die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg angeblich emissionsfrei nach New York segelte. Ein PR-Coup, der letztlich mehr Treibhausgase produzierte, als wenn Thunberg geflogen wäre. Doch sorgt der Klimawandel ihn wohl wirklich. So ermittelte er während des Rennens mit einem automatisierten Laborgerät Wasserdaten für die Wissenschaft. Das Extragwicht dieses Geräts hätten die meisten Kon­kur­ren­t:in­nen nicht an Bord haben wollen.

In 80 Tagen in die Herzen

In 80 Tagen hat sich Herrmann jetzt in die Herzen eines Publikums um die Welt gesegelt, das täglich gewachsen ist. Er hat den Menschen das Segeln nahe gebracht. Er hat sie mit seinen täglichen Videoclips an Bord genommen und aus der Kajüte, vom Computertisch, aus der Koje oder im Cockpit mit ihnen gesprochen. Nie als cooler Mackertyp, sondern stets natürlich, menschlich und sympathisch. Er strahlte Zuversicht, Ruhe, Geduld und Demut aus. Und dass man an seinen Traum glauben muss. Trotz der ungeheuren Strapazen konnte er sich auch über schöne Sonnenuntergänge, imposante Wolkenformationen, Regenbogen oder Albatrosse freuen.

Zugleich machte Herrmann in seinen täglich Berichten aus seinen Pro­blemen, Sorgen, Zweifeln und Nöten auf See nie einen Hehl. Er verschwieg nicht seine Höllenangst, als er für eine Reparatur in den 28 Meter hohen schwankenden Mast klettern musste. Er gab nie vor, die Einsamkeit des Soloseglers zu mögen. Im Gegenteil, er mag sie gar nicht. Wohl auch deshalb war er so kommunikativ.

Alle konnten mit ihm fühlen, doch buhlte er nicht um Mitgefühl. Er konnte komplizierte Sachverhalte verständlich erklären und ließ sein Publikum daran teilnehmen, jeweils locker parlierend auf Deutsch, Englisch oder Französisch. Im Anschluss an Herrmanns wöchentliche Videopressekonferenzen, die er per Satellit regelmäßig von Bord gab, erklärte sein an Land verbliebener Co-Skipper, Will Harris, die neuesten Wind- und Wetterkarten und taktischen Herausforderungen. Eine Hochseeregatta ist kein bloßes Absegeln von Seemeilen, sondern ein komplizierter Wettkampf, in dem die Skip­pe­r:in­nen konkurrierende Wettermodelle und zahlreiche Computerprogramme beherrschen müssen.

Medialer Erfolg

Letzten Sonntag nahmen an einem Zoom-Call seines Sponsors mit dem auf der Zielgeraden segelnden Herrmann 7.200 Menschen teil. Denen zeigte er sein Boot und war ein Segler zum digitalen Anfassen im Rennen seines Lebens. Den Livestream des NDR zu Herrmanns ursprünglich für Mittwochnacht geplantem Zieldurchgang klickten 650.000 Menschen an. Das mag wenig für Fußballspieler sein, ist aber sehr viel für einen Segler.

Doch statt von Herrmanns Triumph im Ziel erfuhr das Publikum von seinem Crash mit dem Fischkutter. Doch dieses Drama erhöhte nur noch die Spannung dieser harten Regatta. Standen bei früheren Auflagen die Platzierungen im Ziel ab dem Passieren von Kap Hoorn so gut wie fest, blieben sie jetzt bis zum Ende offen. Segeln wurde plötzlich extrem spannend. Ein Sport zum Mitfiebern. Unabhängig von seiner Platzierung wurde Herrmann zu einer Ikone. Er war der Sieger der ­Herzen.

Menschen, die zuvor noch nie von ihm gehört hatten, drückten ihm jetzt die Daumen. In den Kommentaren unter seinen Videos hieß es etwa „Danke für die Inspiration! Du bist ein Licht und dieser dunklen Zeit!“, „You are a real fighter and a hero – in mind, in heart, in physical condition!“, „Boris, du hast Großartiges geleistet und das kann dir auch kein Fischkutter nehmen!“ und „Man muss nicht Sieger sein, um zu gewinnen! – Was für eine Leistung, was für ein Statement, schon jetzt eine Ikone!!“ Greta Thunberg nannte ihn auf Twitter „einen wahren Helden“. Der vielfache deutsche Segelmeister und Hamburger Segel- und Liedermacher Frank Schönfeldt schrieb ein Lied „Boris flieg“. Im Refrain heißt es: „Jetzt kommt Deine Chance: Boris geh’ aufs Ganze!“ Was für ein unerwartetes Spektakel.

Bei diesem Rennen wetteiferten die mit modernster Satellitenkommunikation ausgestatteten Seg­le­r:in­nen auch mit Beiträgen in den Social-Media-Kanälen. Mit Ausnahme des Briten Alex Thomson, der sein ganzes Boot mit Kameras ausgestattet hatte und in seiner Kajüte diese per Fernbedienung einblendete, während er von seinem Rennen berichtete, konnte niemand dem Kommunikator Herrmann das Wasser reichen. Thomson musste bald wegen Schäden am Boot aufgeben. Herrmann wurde, auch Dank seines professionellen PR-Teams an Land, zum Sympathieträger für den Segelsport und zum beliebten Ansprechpartner internationaler Medien.

Die Sportwerdung des Segelns

„Du hast etwas erreicht, das deutschen Seglerinnen und Seglern, und auch uns als Verband, schon sehr lange nicht mehr geglückt ist: Die Menschen unterhalten sich über das Segeln – auch diejenigen sind infiziert, die ansonsten Segeln nicht kennen“, schrieb ihm Mona Küppers, die Präsidentin des Deutschen Segler-Verbandes. Herrmann habe die Anstrengung und Einsamkeit, aber auch die Faszination, Freiheit und das Vergnügen sichtbar gemacht.

Die Vendée Globe könnte pandemiegerechter kaum sein. Abstände und wochenlange Quarantäne sind garantiert

Er habe gezeigt, „dass Segeln eben nicht heißt, Goldknöpfe zu tragen und Schnittchen zu essen, sondern dass Segeln bedeutet, Demut vor den Elementen zu haben. Dass Segeln nicht nur ein Sport, sondern eine besondere Art zu reisen ist! Und dass auch wir Seglerinnen und Segler Verantwortung für Meer und Umwelt übernehmen.“

Segelfunktionäre und Bootshändler hoffen jetzt auf einen Bum-Bum-Boris-Effekt fürs Segeln vergleichbar mit dem Popularitätsschub für Tennis nach den ersten Wimbledon-Erfolgen von Boris Becker und Steffi Graf ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Auch die Organisatoren der Vendée Globe hoffen, dass Herrmann ihnen zur stärkeren Internationalisierung dieser Regatta verhilft. Denn die haben bisher immer nur Franzosen gewonnen, die stets die große Mehrheit der Teil­neh­me­r:in­nen stellen.

Dabei dürfte auch die Coronapandemie jetzt zur plötzlichen Beliebtheit des Rennens und ihres Protagonisten in Deutschland beigetragen haben. Die Pandemie verhinderte zwar, dass in Frankreich wie sonst an den beiden Wochenenden vor dem Start zwei Millionen Menschen in den Starthafen pilgerten und später am Ziel Hunderttausende das Ufer säumten, um ihren Hel­d:innen zuzujubeln. Die Kontaktbeschränkungen und eine ab 18 Uhr geltende Ausgangssperre lassen das nicht zu. Nur wenige Personen durften beim Zieleinlauf dabei sein. Ähnliches kennen auch andere Sportarten, deren Wettkämpfe jetzt ohne Publikum auskommen müssen.

Pandemiegerechtes Event

Doch die Vendée Globe ist mit ihren Soloseglern ein geradezu pandemiegerechter Wettkampf. Abstände und wochenlange Quarantäne sind garantiert. Charlie Dalin, der als Erster im Ziel eintraf, sprach von seinem Realitätsschock, weil er naiverweise gehofft hatte, dass sich das Ausmaß der Pandemie stark verringern würde, während er 80 Tage in einer pandemiefreien Blase gesegelt ist.

Zur Pandemiekonformität der Vendée Globe trägt auch bei, dass die Skip­pe­r:in­nen ohnehin eine Art Homeoffice an Bord haben, von dem aus sie täglich ihre Clips produzieren und versenden. Ohne diese authentischen Berichte der Teil­neh­me­r:in­nen wäre der Fortlauf der Regatta am Ende der Welt bestenfalls als Computeranimation wahrgenommen worden. Doch jetzt trafen die Postings der Seg­le­r:in­nen auf ein Publikum, das um seine sozialen Kontakte beraubt im Homeoffice sitzt. Die Blicke auf die neuesten Rankings und Videos der Lieb­lings­seg­le­r:in­nen sind in Zeiten trüber Lockdowns eine tägliche Flucht in mentale Abenteuer.

Herrmann ist ein Glücksfall für den Segelsport wie für seine Sponsoren –ein Sportler neuen Typs. Er hilft dem medial unterbelichteten Segelsport auf die Sprünge. Hochrangige und aufwändige Regatten wie die Vendée Globe können nur durch eine erfolgreiche Verknüpfung von Medialisierung und Kommerzialisierung einem Massenpublikum schmackhaft gemacht werden. Herrmanns besondere Leistung besteht darin, dies glaubwürdig und inspirierend zu machen und zugleich über den Tellerrand des eigenen Sports hinaus zu schauen. Das macht ihn zum Lichtblick in diesen gebeutelten Zeiten. Was wäre erst los gewesen, wenn er diese Regatta sogar noch gewonnen hätte?

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