So was wie Gesellschaft

Die Journalistin Carolin Wiedemann sucht die postpatriarchale Welt und propagiert eine kollektive queerfeministische Praxis

Ich und die Gesellschaft: ergibt jede Menge Widersprüche Foto: Carlos Barria/reuters

Von Marlen Hobrack

Wie könnten neue, nichtpatriarchal geprägte Beziehungsformen aussehen, wie können neue Familienmodelle den Weg in eine postpatriarchale Welt weisen? Das und mehr erkundet die Journalistin Carolin Wiedemann in ihrem Buch „Zart und frei“.

In vier Kapiteln skizziert Wiedemann den Begriff des Patriarchats, antifeministische Mobilisierungen, die Verbindung von Patriarchat und Kapitalismus sowie neue Beziehungskonzepte. Sie folgt der verbreiteten Backlash-Theorie, wonach feministische Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zu einem rechtskonservativen Aufbegehren führten: Der Aufstieg von Politikern wie Donald Trump oder der Ausbreitung der Incel-Kultur gelten als Beleg. Gerade auch liberale Au­to­r*in­nen seien Teil der antifeministischen Bewegung, auch solche, die sich als feministisch verstehen. Nancy Fraser, die Kritik an linker Identitätspolitik übte, weil damit die Vertretung von Gruppeninteressen an die Stelle von Klasseninteressen getreten sei, ordnet Wiedemann ebenso im Spektrum potenzieller Gegnerschaft ein wie die Philosophin Svenja Flaßpöhler, die in ihrem Buch „Die potente Frau“ Kritik an der Viktimisierung der Frau im Rahmen der MeToo-Kampagne übte.

Im Kapitel zur Verknüpfung von Patriarchat und Kapitalismus wird deutlich, was im ganzen ersten Teil Problem des Textes ist: eine eher oberflächliche Analyse, die die Position anderer Autoren zusammenfasst. Wiederholt wird Friedrich Engels’These, wonach das Aufkommen des Privateigentums eine patrilineare Vererbungslinie begründete. Bei Engels gibt es die Vorstellung, der Nebenwiderspruch, also die Frauenfrage, löse sich mit der Überwindung des Hauptwiderspruchs, der Klassenfrage, einfach auf. Bei Wiedemann könnte man nun den Eindruck gewinnen, dass es sich andersherum verhält: Die Überwindung des Patriarchats fällt zusammen mit der Überwindung des Kapitalismus.

Schöne Utopie? Wiedemanns Analyse bleibt zu grob, beispielsweise wenn sie behauptet, die Industrialisierung habe die Arbeitsteilung in Familien etabliert – der Mann geht in die Fabrik, die Frau bleibt zu Hause. Sie übersieht Legio­nen von Arbeiterinnen in den Fabriken, die erheblichen Anteil am Erstarken der Arbeiterbewegung hatten.

Carolin Wiedemann: „Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats“. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021, 218 S., 20 Euro

Viel stärker ist das letzte Kapitel, in dem sich Wiedemann ihrem eigentlichen Thema widmet: Der Frage nach neuen, zarten und freien Beziehungsformen jenseits der heterosexuellen Paarbeziehung und Kleinfamilie. Hier flicht sie persönliche Erfahrungen und Berichte anderer zur Erkundung poly­amouröser Beziehungen, achtsamer Sexualität und neuer Familienmodelle ein. Sie erzählt von drei Frauen, die als Mütter gemeinsam ein Kind großziehen, und von WGs, in denen Elternteile gemeinschaftlich Kinder versorgen. Der Einblick in diese Alternativmodelle ist spannend, wenngleich man feststellen muss, dass Männer nur am Rande als Samenspender auftreten (im Beispiel der drei Mütter auch konkret so benannt). Ob das eine positiv-befreiende Praxis für Männer/Väter ist, sei nun dahingestellt.

Überhaupt, und hier muss die Kritik etwas grundlegender werden, zeigen diese Modelle einen zutiefst individualistischen Ansatz: gesellschaftliche Veränderung erscheint als Ergebnis veränderter intimer Praxen – gibt es ein Problem in der Kleinfamilie, muss man sie eben überwinden. Für die Masse von Eltern und Kinder, die in ziemlich gewöhnlichen Kleinfamilien leben und aufwachsen, bietet dieser Ansatz aber wenig.

Wiedemanns Buch zeigt deutlich, was passiert, wenn gesellschaftliche Entwicklung als persönliches, identitätspolitisches Projekt adressiert wird: Man diskutiert nicht mehr über Steuerpolitik, die die Einverdiener-Ehe subventioniert, man nimmt nicht mehr in den Blick, wie öffentliche Infrastruktur die Vollzeitberufstätigkeit von Frauen ermöglicht. An die Stelle konkreter politischer Maßnahmen treten individuelle Beziehungsentscheidungen, there’s no such thing as society. Auch wenn Wiedemann es zurückweisen würde: Es ist ein feministischer Ansatz, der Neoliberalen gefallen muss.