Schlafen ist politisch: Träumt weiter!
Schlaf gilt als privat. Gleichzeitig wird er durch Arbeit eingegrenzt, von Familie strukturiert, mit Apps optimiert. Aber der Schlaf hat Potenzial.
Es gibt zwei Abschnitte im Leben: Beim ersten soll man so oft und lang wie möglich schlafen, will aber nicht. Da ist man meistens noch ein Kleinkind. Beim zweiten will man oft schlafen, kann aber nicht, weil man erwachsen ist und irgendwie mit der ganzen Lebensladung zurechtkommen muss: mit Arbeit, Verantwortung, Stress.
Etwa ein Drittel aller deutschen Erwachsenen ist laut dem Robert-Koch-Institut von klinisch relevanten Schlafstörungen betroffen, bei einer Umfrage der Krankenversicherung DAK gaben 80 Prozent der Befragten an, selbst unter Schlafproblemen zu leiden. Für Unternehmen wird Schlaf so zum Geschäft, für Schlafende zum Stressfaktor.
Wie wir schlafen, ist keine individuelle Frage. Es ist eine politische Frage der Verteilung, eine strukturelle Frage der Gerechtigkeit. Wer schläft, bewegt sich in einem Spannungsfeld: Einerseits soll Schlaf ein erholsamer Rückzugsort sein, getrennt von Arbeit, Familie, gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen. Gleichzeitig hängt Schlaf mit all diesen Dingen zusammen, weil sie bestimmen, wann und wie wir schlafen.
Fragen des Schlafs sind moralisch aufgeladen: Wer mittags schläft, ist faul. Wer wegen der Arbeit wenig schläft, wird, je nach Job, bewundert. Wer wegen Kindern müde ist, muss da halt die paar Jahre lang durch; eine Denkweise, die während der Pandemie besonders sichtbar wird. Guter Schlaf meint dann meistens, so bewusst und diszipliniert zu leben, dass man zu den richtigen Zeiten effizient schläft, um danach möglichst wach und möglichst produktiv zu sein. Gut zu schlafen bedeutet, das eigene Leben im Griff zu haben. Nur: Einen guten Schlaf muss man sich leisten können.
Mit Croissantgeruch geweckt
Der Kapitalismus, der den Schlaf maßregelt, unterbreitet zahlreiche Angebote, mit denen sich dieser optimieren lässt. Mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln, der richtigen Diät. Mit Tageslichtlampen, teuren Matratzen oder internetfähigen Bettdecken, die App-gesteuert wärmen oder kühlen. Mit Weckern, die Sonnenaufgänge simulieren oder mit wohlriechenden Düften wecken, beispielsweise, das ist kein Scherz, mit Croissantgeruch.
Bewusstes Schlafen gliedert sich in eine Welt von Yoga, Meditation und Minimalismus ein, in der sich Selbstoptimierung derzeit unter dem Sammelbegriff Achtsamkeit erfolgreich verkauft. Diese Welt bewohnt vor allem das großstädtische, akademische Milieu, das nicht nur das nötige Geld hat, um in die eigene Optimierung zu investieren, sondern auch die Zeit, sich darüber überhaupt so viele Gedanken zu machen – und dabei selbstgefällig auf diejenigen zu blicken, die weniger von beidem haben und auch einfach nur funktionieren müssen.
Auf diese startuppige Lebenswelt gibt es häufig zwei Reaktionen: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die Konsumkritik üben. Sie gehen davon aus, dass Änderungen des individuellen Konsumverhaltens zu gesellschaftlichem Wandel führen. Sie sagen: Löse dich von diesem Optimierungswahn, hör auf, deine Erholung zu maximieren. Schlaf muss nicht effektiv sein. Schlaf, wann du willst, wie du willst, dein Schlaf gehört dir.
Die andere Seite entgegnet, dass Konsumkritik naiv ist, weil sie davon ausgeht, dass man sich frei und individuell entscheiden kann, sich selbst nicht zu optimieren. Dabei muss man sich den Verzicht ja leisten können: Wessen finanzielle Sicherheit von der unmittelbaren Performance abhängt, muss in einer Konkurrenzgesellschaft eben ausgeruht sein, um Leistung erbringen zu können.
Zeiten und Räume
Hannah Ahlheim, Historikerin an der Universität Gießen, zeichnet in „Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert“ die jüngere Geschichte des Schlafs im globalen Norden nach. Sie beschreibt Schlaf als soziale Praxis, die nur vermeintlich in geschützten Räumen stattfindet: „Politische und ideologische Entscheidungen wirken auf den Schlaf des Menschen, der Krieg stört den Schlaf, die Arbeit setzt ihm Grenzen, gesellschaftliche Institutionen weisen ihm Zeiten zu“, so Ahlheim. „Die Zeiten und Räume, die für das Schlafen zur Verfügung gestellt werden, sind abhängig von der sozialen Position des Schlafenden, von seiner Arbeit und von den allgemeinen ökonomischen Strukturen der Gesellschaft.“
Vor etwa 100 Jahren setzte die Arbeitendenbewegung in Deutschland den Achtstundentag durch. Ahlheim zitiert Schlafratgeber, die etwa zur selben Zeit der bürgerlichen Welt erklärten, wie man schläft: Wie das Schlafzimmer einzurichten ist, wie zu lüften ist, welche Schlafrhythmen gut sind (Schlaf vor Mitternacht ist essenziell, Mittagsschlaf ganz schlecht).
Diese Kunst des Schlafes, so Ahlheim, habe nur wenig mit der Schlafzimmerrealität der proletarischen Klasse zu tun. Über die Arbeitenden merkten die Schlafratgeber an, dass sie sich gar keine Gedanken über den Schlaf zu machen bräuchten, weil sie davon ohnehin nicht viel benötigten. Der Geist erfordere schließlich mehr Schlaf als die Muskeln.
Fragen rund um den Schlaf haben die Künstlerin Tricia Hersey dazu veranlasst, „The Nap Ministry“zu gründen. Das US-amerikanische, künstlerisch-aktivistische Projekt untersucht die befreiende Kraft von „naps“ für BIPoC. Das Projekt ist vor allem über den Auftritt in sozialen Netzwerken bekannt, bietet aber auch Aktivitäten an: kollektive Schlaferfahrungen in safer spaces, also geschützten Räumen. Oder jetzt, während der Pandemie, virtuelle Sitzungen über Zoom, in denen sich die Teilnehmenden austauschen, ausruhen und schweigen.
Schlafen heißt sich entziehen
Stellenweise mutet der Ansatz esoterisch an, etwa wenn Hersey, die auch Theologin ist und Beiträge auf dem Blog mit „Your Faithful Nap Bishop“ unterzeichnet, Schlaf als spirituelle Praxis beschreibt. Aber The Nap Ministry „ist kein Trend“, erklärt Hersey auf Twitter. Es gehe nicht um Selfcare, nicht bloß um ein Nickerchen.
Das Projekt ist ein radikal politisches, weil es die Möglichkeit, sich auszuruhen, als ein ungleich verteiltes Recht versteht – und Schlaf als Instrument nutzt, um Ungerechtigkeit sichtbar zu machen. Weil verschiedene Formen der Ausbeutung den Tagesablauf und damit auch den Schlaf durchdringen, ist es eine Form von Widerstand, sich dem zu entziehen. Das US-amerikanische Projekt Nap Ministry richtet sich an Schwarze Menschen und Personen of Color, die besonders häufig unter prekären Umständen arbeiten und seit Jahrhunderten Rassismus ausgesetzt sind. Die Möglichkeit, sich auszuruhen, wird deshalb auch als eine Form von Reparation verstanden.
Damit antwortet das Projekt sowohl auf die Frage, wie politisch Schlaf sein kann, als auch auf die Frage, wie die Optimierung von Schlaf kritisch einzuordnen ist: Und das hängt davon ab, wer schläft.
Für den deutschen Raum verdeutlicht das eine Studie der Universität Leipzig. Sie zeigt: dass Frauen im Vergleich zu Männern deutlich häufiger unter Schlafstörungen leiden; dass Menschen besser schlafen, wenn sie Abitur haben; dass Berufstätige besser schlafen als Arbeitslose. Was wiederum weitere Folgen hat, etwa weil Schlaflosigkeit als Risikofaktor für viele Erkrankungen gilt.
Ein anderer Schlaf ist möglich
Mit der Frage, wie Schlaf organisiert wird, beschäftigen sich die critical sleep studies, die kritischen Schlafwissenschaften, eine Nischendisziplin. Diese Disziplin geht davon aus, dass Schlaf konstruiert ist, also Normen und Konventionen, die Schlaf regeln, historisch nicht konstant sind. Ein Beispiel dafür ist der achtstündige Nachtschlaf: Menschen haben nicht immer die ganze Nacht, sondern in Etappen geschlafen. Der achtstündige Nachtschlaf ist damit ein vergleichsweise junges Modell, bedingt durch Industrialisierung und moderne Arbeit.
Das zeigt: Wie wir heute schlafen, ist nur eine von vielen Arten, wie man ruhen kann. Über die Organisation von Schlaf nachzudenken bedeutet auch, Arbeit, Pflege, Freizeit und Gesundheit miteinzubeziehen. Ein anderer Schlaf könnte der Beginn einer gerechteren Gesellschaft sein.
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