piwik no script img

Mit der Kraft der Mistel?

Um Nebenwirkungen der Krebsbehandlung zu lindern, wird unter anderem mit Misteln therapiert. Die Wirkung ist umstritten, ärztliche Begleitung geboten

Die Mistelpflanze lebt als Halbschmarotzer parasitierend von anderen Gewächsen Foto: die Kleinert/mauritius-images

Von Helke Diers

Um die Mistel ranken sich zahlreiche Mythen und Bräuche. Miraculix benötigt sie für seinen Zaubertrank, sie steht für Fruchtbarkeit und gilt als Heilmittel gegen Krankheiten. Die Mistelpflanze lebt als Halbschmarotzer parasitierend von anderen Gewächsen. „Sie ernährt sich aus den Lebenssäften des Baumes, die er selber braucht“, erläutert Harald Matthes, Professor und Leiter der Abteilung für Gastroenterologie am anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus Ha­vel­höhe in Berlin. Der anthroposophischen Lehre nach hat die wuchernde Mistel Ähnlichkeit zu Tumorerkrankungen – und soll deshalb gut gegen sie wirken.

Ampullen mit Mistelauszügen verschiedener Bäume – etwa Apfel, Tanne, Esche – sind in Deutschland rezeptfrei erhältlich. „Die Mistel enthält mehrere pharmakologisch wirksame Substanzen, darunter die sogenannten Lektine, die in Zellkulturversuchen Krebszellen abtöten und das Immunsystem stimulieren“, erläutert Susanne Weg-Remers, Leiterin des Krebsinformationsdienst am Deutschen Krebsforschungszentrum (KID). Die Mittel werden in unterschiedlichen Dosierungen den Patienten unter die Haut gespritzt.

Laut Bundesverband der pharmazeutischen Industrie wurden 2019 mit Anthroposophika 676,9 Millionen Euro umgesetzt. In Deutschland sind die meisten Mistelpräparate aufgrund von Ausnahmeregelungen für die Anthroposophie zugelassen, nicht aufgrund moderner klinischer Prüfungen, heißt es auf den Informationsseiten des KID. Zu dieser Ausnahme erklärt Jutta Hübner, Professorin für ­Integrative Onkologie am Universitätsklinikum Jena: „Der Gesetzgeber hat entschieden: Die anthroposophischen Arzneimittel sind eine ‚besondere Therapierichtung‘, die keinen Wirksamkeitsnachweis erbringen muss.“

Über die Wirksamkeit der Misteltherapie wird heftig gestritten. Matthes sagt, die Mistel als ergänzende Behandlung könne helfen, die Lebensqualität zu steigern und Nebenwirkungen aus der schulmedizinischen Behandlung zu senken. „Wir können 30 bis 70 Prozent der Nebenwirkungen einer Chemotherapie verhindern.“ Das sei durch Studien gesichert. Hinsichtlich einer verlängerten Überlebenszeit sei die Datenlage für die verschiedenen Tumorarten nicht einheitlich. Für Tumore in Brust, Lunge oder der Bauchspeicheldrüse zeige sich ein verbessertes Überleben, für andere Arten gäbe es zumindest positive Hinweise. Anders sieht das Hübner vom Universitätsklinikum Jena. Ihr Team hat eine Übersichtsarbeit zu Studien publiziert. Gefragt nach einem verbesserten Überleben sagt sie: „Die Antwort ist ziemlich klar: Nein.“ Sie kritisiert hauptsächlich die Qualität der Studien über die Mistel. Manche Studien zeigten zwar eine Verbesserung der Lebensqualität, ihre Daten hätten aber aufgrund des Placeboeffekts wenig Aussagekraft. Die Teilnehmer wüssten meist, ob sie zur Gruppe derer mit Mistelgabe oder zur Kon­trollgruppe gehörten. Sie sagt: „Es gibt überhaupt nur eine Studie, wo die Menschen in der Kontrollgruppe auch gepikst wurden.“ Fast alle Studien seien von Befürwortern der Misteltherapie durchgeführt worden und meistens durch Hersteller oder anthroposophische Institute finanziert.

Zu einer ähnlich begründeten Einschätzung kommt Weg-Remers vom KID. Sie forscht nicht selbst, aber berät auf wissenschaftlicher Basis Patienten und Angehörige. „Mistelpräparate haben keinen anerkannten Stellenwert in der wissenschaftlich fundierten Krebsmedizin: Sie werden in keiner medizinischen Leitlinie empfohlen.“ In klinisch-kontrollieren Studien sei bisher nicht überzeugend nachgewiesen worden, dass Krebswachstum durch die Misteltherapie gebremst werden könne. „Wenn man Mistelpräparate in der Hoffnung nimmt, dass dies die Lebensqualität verbessert: Es gibt kontrollierte klinische Studien, die darauf hinweisen, dass Patienten das so erleben können.“ Sie weist auf denselben Umstand wie Hübner hin: Diese Studien seien nicht verblindet – den Teilnehmern also klar, was in der Studienspritze enthalten sei. Für die manchmal erlebte Verbesserung der Lebensqualität gebe es zwei Hypothesen zur Wirkung der Präparate: „Es könnte sein, dass die Mistel die Ausschüttung von Endorphinen stimuliert. Möglicherweise ist es aber auch wichtig, dass Patienten selbst das Gefühl haben, etwas für ihre Genesung zu tun und sich dadurch aktiver und besser fühlen.“

Matthes rät, Misteln nicht ohne ärztliche Begleitung zu verwenden: „Man braucht Ärzte, die sehr viel Erfahrung und Kenntnisse haben.“ Auch Weg-Remers betont die Wichtigkeit einer ärztlichen Kontrolle. Bei manchen Tumorarten müsse von Misteln abgeraten werden und es gelte, mögliche Nebenwirkungen im Blick zu behalten. Sie rät Patienten ausdrücklich, die Misteln nicht als Alternative zur herkömmlichen Therapie zu sehen: „Wenn man die schulmedizinische Behandlung ablehnt, geht man unter Umständen ein sehr hohes persönliches Risiko ein. Nämlich, dass man möglicherweise eine Heilungschance verpasst und die Erkrankung sehr rasch fortschreitet.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen