Der Fluch der Ballerina

In „Ghost Light“ spielt Choreograf John Neumeier mit Figuren seiner eigenen Klassiker. Die neue Ballettproduktion zeigt als Stream, was Tanzen mit Abstandsgebot heißen kann

Das Licht brennt noch, der Tanz geht weiter, auch wenn Abstand halten schwer fällt Foto: Kiran West/Hamburgballett

Von Jens Fischer

Leere im fahlen Licht. Und Stille. Mit trippeligen Ballerina-Schritten schleicht Anna Laudere herein, Erschrecken steht ihr im Gesicht, Verunsicherung drückt ihre Haltung aus. Verloren wirkt sie in einem verknitterten Kleid, das aus dem Fundus der „Kameliendame“-Produktion John Neumeiers stammt. Ein exquisites Kostüm der todkranken Edelprostituierten aus dem gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas d. J., den der US-amerikanische Chef des Hamburg Balletts 1978 zu einem melodramatischen Ballett-Klassiker verarbeitet hat. Deren Pro­tagonistin verkörperte auch Laudere schon. In Erinnerung daran erhebt sie nun die Hand – aber kein Liebhaber der Geldaristokratie stürmt zum Kuss herbei. So geht die Hand nachdenklich ans Kinn, dann panisch vor den Mund.

Die Primaballerina taumelt an die Rampe, muss sich übergeben. Ob sie Blut spuckt wie die tuberkulöse Kameliendame oder eine Corona-infizierte Lunge sich hustend erbricht, ist nicht zu erkennen. Was Laudere anschließend in ihrer Heimatsprache Lettisch schimpft, bleibt unübersetzt, auch in der gefilmten Version des Balletts, die am Sonntag auf Arte gezeigt wird und anschließend über die Kultursender-Site gestreamt werden kann.

Deutlich wird durch den Fluch der Tänzerin, dass hier nicht die Wiederaufnahme der „Kameliendame“ misslingt, sondern gezeigt wird, was davon übrig geblieben ist nach Proben unterm Abstandsgebot der Coronapolitik: „Ghost Light“ lautet der Titel des Stücks. Und ein Geist schleicht dann doch noch der einsam mit ihrem Schatten spielenden Tänzerin zu Hilfe, dreht ihren Körper, offenbart sich auf Knien.

Glücksskepsis durchpulst die Leiber, sie geben einander Halt und feiern Paarbildung als Fluchttraum vor Realität. Bis der französische Pianist David Fray in todesdüsterer Diktion beginnt, Klavierwerke von Franz Schubert zu ertasten, auf denen die Körper des 110-beinigen Hamburg Balletts fortan ihre Lockdown-Leiden in Bewegung setzen. Der Meister der Neoklassik hat einen Abend kreiert, der die sozialen Distanzierungsregeln nicht nur einhält, sondern das Leben damit thematisiert. Eine Tanz-Séance in fahler Notbeleuchtung, eben dem Ghost Light, einer einzelnen Glühbirne auf einem Metallständer.

Wider die aktuellen Aufführungsverbote haben viele Häuser die Tradition des Ghost Lights wiederbelebt – symbolisch, als ewiges Licht der Bühnenkunst. Einstmals nämlich ließen Theater in den USA, in Australien und England die ganze Nacht über eine Glühlampe auf der Bühne brennen. Praktischer Zweck: Spät dort noch Werkelnde sollten so daran gehindert werden, durch Falltüren im Bühnenboden, über herumliegende Werkzeuge oder in den Orchestergraben zu stürzen. Es gibt aber auch Erzählungen, nach denen Ghost Lights böse Geister verjagen, andere Geschichten behaupten, sie würden die Gruftie-Partys illuminieren der im Haus herumgeisternden Seelen verstorbener Künstler und dem Personal abgespielter Stücke.

Solche irrlichtern nun reichlich durch Neumeiers Corona-Abend. Nicht nur die Kameliendame taucht auf, Fans entdecken viele weitere Zitate aus dem Repertoire des Hamburg Balletts – Figuren, Körper-Arrangements, Bewegungsfolgen, Schrittkombinationen. Diese Reminiszenzen einstiger Leidenschaften funktionieren fürs Ensemble als Ausgangspunkte, ihre unbändige Tanzlust auszuleben. Neumeier belässt vielen Szenen den Probencharme und gibt den Tanzenden Freiheiten wie selten – das übliche Ballett-Vokabular und die Hochleistungsartistik des Modern Dance dürfen nicht nur individuell ausgestaltet, sondern flüchtige Alltagsimpressionen eingeflochten, eigenwillige Motions­kanons ausprobiert, auch einfach mal Hechtsprünge-Jux und Liegestütz-Dollerei gefeiert werden.

Erlaubt ist zudem, in der Coronazeit ganz verrückte Sachen zu machen: sich einfach mal zu berühren, kurz nur, wie zufällig. Dann folgt schnell das Zusammenzucken, Zurückziehen, Wieder-um-sich-selbst-Drehen. Gerade Aleix Martinez weiß da nervös moderne Akzente zu setzen. Patricia Friza ragt ebenso heraus, wie sie durchs Corps de Ballet wütet, muss sie doch allein bleiben und dreht angesichts dieser Ungerechtigkeit fast durch. Denn alle verheirateten oder zumindest zusammenwohnenden Paare in der Compagnie dürfen innig miteinander tanzen. Was sie ausgiebig tun. Ein stetes Aufeinanderzu und Voneinanderweg ist als Suche zweier Persönlichkeiten zu erleben, ihre tänzerischen Vorlieben zusammenzubringen. Die Pas de deux sind leise Beziehungsdramen befremdlicher Rollenzuweisungen. Gleiten doch Frauen immer wieder an den Männerkörpern herab, lassen sich fallen, werden aufgefangen, gehoben, gedreht und anschließend wie ein Hauptgewinn über die Bühne getragen. Da ist der zeitgenössische Tanz deutlich weiter.

Erlaubt ist, ganz verrückte Sachen

zu machen: sich einfach mal berühren

Oft träumt oder erinnert sich jemand in Neumeiers Handlungsballetten an sein Leben. Diesmal fehlt eine durch Rückblenden erzählte Geschichte – und damit auch die dramaturgische Entwicklung des Abends. Es folgt Duett auf Duett, sie werden durchkreuzt von Soli sowie Auftritten in Dreierkonstellationen, damit alle mal an die Rampe dürfen und die Stars auch mehrmals. All das ornamentiert Neumeier mit zarten Gruppenchoreografien flattriger Elevinnen. Aparter Ballett-Stuck. Das Ganze ist kein Stück, sondern eine Nummernrevue, die Ästhetik aber auch eine Konsequenz der Probenbedingungen. Per Zoom-Konferenz und in Kleinstgruppen hat das Ensemble seit Ende April 2020 trainiert. Neumeier blieb nicht viel mehr übrig, als die entwickelten szenischen Fragmente lose zusammenzupuzzeln.

Wenn die Tanzenden hilflos hilfsbereit herumirren oder in jugendliche Unbefangenheit flüchten, wenn sie immer wieder kurz durchstarten, sich das raumgreifende Ausformulieren ihrer Bewegungsimpulse aber schnell wieder verbieten, in Verkrümmungen, Reckungen und Streckungen innehalten, jeder für sich und auch zusammen mit anderen immer nur allein ist, dann sind das Coronabilder, fraglos, aber sie sind so edel designt und von der Musik so pathetisch aufgeladen, dass hier nicht psychologischer Realismus zum emotional vielschichtigen Ereignis wird. Es betört vor allem durch den Reiz der eleganten Ausführung, wie sich alle dabei spreizen und über Spitze gehen. Das zunehmend wütende Verzweifeln in einem auf Abstand gepolten Dasein verpufft.

Symbolisch apart aber gelingt das Finale. Ein Tänzer setzt sich vors Ghost Light, fasziniert von der hoffnungsvollen Strahlkraft gegen die Düsternis aktuell verwaister Bühnen. Die gesamte Compagnie weht herein, umschwirrt wie Motten das Licht, während der Eiserne Vorhang langsam das schummrige Treiben von den Zuschauern trennt: „Ghost Light“ war in der Lockdown-Pause im September 2020 in Hamburg uraufgeführt worden. Jetzt ist es fast einen Monat lang zu sehen – als Film.

„Ghost Light“: am 24. 1., 23.05 Uhr, auf Arte zu sehen und anschließend bis 22. 2. in der Mediathek verfügbar