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Wie trägt man einen Laborkittel?

Ein Kunstkurs des 11. Jahrgangs am Neuköllner Albert-Schweitzer-Gymnasium widmet sich August Sanders Werk und interpretiert es neu in eigenen sehenswerten Aufnahmen

Von Jens Uthoff

Die Porträtreihe „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ist ein Klassiker der Fotografiegeschichte. Der Kölner Künstler August Sander (1876–1964) lichtete in der Serie Personen bestimmter Stände und Berufe ab – dazu inszenierte er sie in typischer Pose und Kleidung. Sanders Ziel war es, „archetypische Repräsentanten für jeden möglichen Typus, jede soziale Klasse, jede Unterklasse, jede Beschäftigung, jede Berufung und jedes Privileg“ zu finden, wie John Berger 1980 in seinem berühmten Essay über Sander („Der Anzug und die Photographie“) schrieb. „Der Jungbauer“, „Der Volksschullehrer“ oder „Der Student“ hießen dessen Bilder entsprechend. Sander betrieb Soziologie mit den Mitteln der Fotografie. Zwischen 1925 und 1955 arbeitete er an seinem Hauptwerk.

Bis heute fasziniert das Projekt, wohl vor allem deshalb, weil das Bedürfnis, die Berufungen und Berufe der Menschen eindeutig zu kategorisieren, geblieben ist. So hat sich nun auch ein Kunstkurs des 11. Jahrgangs am Neuköllner Albert-Schweitzer-Gymnasium Sanders Werk gewidmet – und die Frage gestellt, wie man es sinnvoll ins Berlin des Jahres 2020 übersetzen kann.

Herausgekommen ist eine Schwarz-Weiß-Fotoreihe, die auf ihre Weise fasziniert: Die Schüler_innen haben Sanders Fotografien als Grundlage genommen, um entweder sich selbst zu repräsentieren („Schüler im Chemieunterricht“) oder für den Zeitgeist typische Szenen nachzustellen („Sanders Postmoderne“). Die Fotos sollen bald am U-Bahnhof Hermannplatz gezeigt werden – um die Ausstellung und einen Katalog realisieren zu können, haben die Schüler_innen eine Crowdfunding-Kampagne gestartet.

Der soziologische Ansatz sei auch in ihrem Kunst-Grundkurs Ausgangspunkt gewesen, erklärt Lehrerin Kathrin Hammelstein im Telefongespräch: „Wir haben uns der Arbeit Sanders mit der Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu genähert. Als Erstes haben wir deshalb am Hermannplatz das Straßenbild und die Menschen beobachtet.“ Es sei zunächst nur darum gegangen, was die Schüler_innen sehen und wahrnehmen und wie sie das Gesehene und Wahrgenommene für sich einordnen. „Warum nehme ich an, dass der- oder diejenige ein bestimmter Typ Mensch ist? Woran mache ich das fest? Am Aussehen? An der Kleidung? An der Haltung?“

Menschen zu typisieren ist seit 1920 eher schwerer geworden

Für die Schüler_innen war der Auftrag damit klar: einen bestimmten Habitus im Sinne Bourdieus in einem Bild einzufangen. Während Sander damals mit einer Großformatkamera arbeitete, reichte ihnen dazu die Kamera des Smartphones. Wichtiger als die Technik war es allerdings zu überlegen, wie man die Person in Szene setzt und welchen Hintergrund man wählt. Amra Salcinovic und Selma Özcelik haben für ihr Bild „Die Spanischlehrerin“ Sanders Foto „Der Volksschullehrer“ zum Vorbild genommen. „Wir haben uns überlegt, welche Körperhaltung, welche Blicke und welche Kleidung typisch für eine Lehrerin sind. Es war schwer, sich auf ein Motiv festzulegen, weil ja nicht alle Lehrer gleich sind“, sagt Amra, eine 16-jährige Schülerin aus Kreuzberg, am Telefon. Sie selbst hat die Spanischlehrerin gemimt, und sie glaubt: „Wenn wir unsere Fotos ausstellen, können sich auch andere Leute damit auseinandersetzen, wer August Sander war und was er mit seiner Fotografie wollte. Und wie wir ihn heute interpretieren.“

Die Aufgabe, Menschen zu typisieren, ist dabei in den hundert Jahren eher schwerer geworden: Zu Sanders Lebzeiten waren der Alltag und die Berufswelt geordneter, übersichtlicher, eintöniger; in vielen Berufen herrschten andere, strengere Kleidungsvorschriften und -konventionen. Und Homeoffice im Jogger gab es schon mal gar nicht.

Was die Rezeption von Bildern betrifft, ist allerdings doch Vieles gleich geblieben: Es spielt für die Lesart des Fotos eine Rolle, wie die beiden Cocktailparty-Mädchen gekleidet sind und wie sie ihr Glas Wein halten („Sanders Postmoderne“), wie der Laborkittel aussieht und sitzt („Schüler im Chemieunterricht“) oder wie ernst der Blick einer Person ist („Spanischlehrerin“). Insofern können Fotografien wie diese immer noch dazu einladen, sich seiner eigenen Klassifizierungen und Kategorisierungen bewusst zu werden, sich zu überprüfen, oder eben: zu lernen, wie wir sehen.

„Schüler*innen des 21. Jahr­­hunderts“, Spenden: www.startnext.com/schuelerinnen-21-jahrhundert

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