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Da kommt Besuch ins Hinterland

Wiedergelesen: Hans Christoph Buch zieht sich 1977 ins Wendland zurück, um in Ruhe an einem Roman zu arbeiten. Sein heute legendäres Tagebuch erzählt, wie er es stattdessen mit dem Endlager-Beschluss, Aufruhr und Widerstand zu tun bekam

Von Frank Keil

Acht Umzüge hat das Buch überstanden: vom Land zurück in die Stadt, aus diversen WGs in die Zweisamkeit, dann weiter in die folgende Wohnung mit Kind, und irgendwann in die nächste, nun ohne. Achtmal habe ich es aus dem Regal gezogen, es sorgsam eingepackt und ins wieder aufgestellte Regal zurücksortiert: „Bericht aus dem Inneren der Unruhe – Gorlebener Tagebuch“ von Hans Christoph Buch; in der Taschenbuch-Ausgabe von 1984, nach der Original-Ausgabe von 1979. Schlage ich es auf, sind leichte Stockflecken nicht zu übersehen. Auch riecht es etwas muffig – eben nach altem Taschenbuch.

Was man wissen muss: Hans Christoph Buch, 1944 geboren, Diplomatensohn, liest – noch nicht mal 20-jährig, das Abitur gerade in der Tasche – 1963 vor der Gruppe 47. In den 1970er-Jahren ist er zugleich Lektor bei Rowohlt, gibt dort das „Literaturmagazin“ heraus. Er lebt in Berlin, es gibt aber auch ein kleines Häuschen im Landkreis Lüchow-Dannenberg, wohin sich Buch im März 1977 zurückzieht. Er will einen nächsten, großen Roman schreiben – aber das wird nichts.

Wiedergelesen

Unsere Serie stellt in loser Folge Texte und literarische Werke vor, die von Norddeutschland handeln oder deren Autor*innen hier gelebt haben oder beides – und auf die aufmerksam zu machen, es Gründe gibt.

Erneut lesen wir dafür Bücher, weil jeder meint, sie zu kennen, sie aber doch ganz anders verstanden werden müssten; weil keiner sie kennt, obwohl jeder sie kennen sollte; weil man nicht loskommt von ihnen; weil sie in Vergessenheit geraten sind oder weil sie zu Unrecht Ruhm und Publikum eingeheimst haben.

Denn während er seine Notizen ordnet, aus dem Fenster schaut, sich hasserfüllt ausmalt wie er den kleingeistigen Nachbarn mit dem Luftgewehr niederstreckt, wird im fernen Bonn und im etwas näheren Hannover entschieden: In einem unbekannten Dorf namens Gorleben soll der Atommüll jener wie zukünftiger Tage unter die Erde gebracht werden. Und Buch ist nun mittendrin: Er wird Zeuge, wie im letzten Winkel der bundesrepublikanischen Welt innerhalb weniger Wochen ein die Jahrzehnte bestimmender Konflikt aufreißt. Buch wird Akteur, wird Teil des Geschehens, über das er fortlaufend berichtet, das er zuweilen fast manisch protokolliert. So ist sein Tagebuch, als er es am 12. Mai 1979 mit 378 Seiten abschließt, gelegentlich auch eine Zumutung. Es ist aber ja nie verkehrt, beim Lesen zwischendurch mal gehörig durchgeschüttelt zu werden.

Wobei: Wenn er mal wieder allein in seinem Häuschen ist, packt ihn die Literatur und er will nur Dichter sein. Doch dann stehen die Bürgerinitiativen-Freunde wieder in der Küche, eine nächste Aktion steht an, Plakate müssen gedruckt und Erklärungen verfasst werden. An stimulierender Empörung mangelt es nicht und mit dem Schöngeistigen ist es sogleich wieder vorbei: „Mit meinem Roman wird es vorläufig nichts werden.“

Mich selbst hat es Anfang der 1980er-Jahre, da war H. C. Buch schon wieder weg, an den Rand des Wendlands verschlagen. In eine Land-WG, wo nie klar war, wer Bewohner war, wer Gast; wer kam, wer ging. Aber das war nicht wichtig, viel wichtiger war: unser Protest gegen den „Atom-Staat“, wie wir ihn nannten. Der so belebte, der so euphorisierte, so wie sich auch Buch vom Schwung des Protestes wegtragen ließ, in dieser schönen, schwer verständlichen Landschaft.

Wer wo wann und warum demonstriert hat, steht im Buch, und welche Zeitung welchen Unsinn darüber schrieb

Davon erzählt Buch, auch von den Streitereien untereinander und vom dann immer wieder doch gemeinsamen Aufbäumen gegen die Atom-Lobby. Zugleich schaut er auf die Welt, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen: Wer wo und warum demonstriert hat und welche Zeitung welchen Unsinn darüber geschrieben hat, wird notiert. Umweltskandale werden detailliert vermerkt, die Urteile im Stammheim-Prozess kommentiert; auch dass der ehemalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß zwei Krokodile im Gepäck hat, als er von einer Reise aus dem damaligen Zaire zurück ist, erfahren wir. Wir sind dabei, wenn er seine 85-jährige Tante besucht, die die Tagesschau für einen Krimi hält und den folgenden Krimi für die Tagesschau. Wir lesen, wie Buch kurz zurück in Berlin eine Podiumsdiskussion an der FU beschreibt, wo Christian Ströbele einen Brief von Horst Mahler aus dem Gefängnis vorliest. So schön wie schrill ist die Passage, als Buch sich breitschlagen lässt, in Gorleben ein Wochenend-Seminar zu organisieren, garniert mit großen Namen: Günter Grass etwa oder Wolf Biermann sollen in der Provinz für ein wenig Glanz sorgen. Auch das wird nichts, Biermann will lieber für die spanischen Kommunisten auf Wahlkampftournee gehen. Die Absage holt sich Buch in einer Telefonzelle, aber Biermann hat gerade ein neues Lied geschrieben, eine Biermann-Fassung des Deutschland-Liedes, und Buch wirft Markstück für Markstück in den Geldschlitz und hört sich geduldig zwölfstrophiges Gesinge an.

Und dann ist da noch C., eine junge Frau, in der frischgegründeten Anti-AKW-Bürgerinitiative gleich führend vornean, von der sich Buch den Kopf verdrehen lässt. Wie ein liebestoller Kater sucht er ihre Nähe, sie hält ihn hin, schaut durch ihn hindurch, wenn sie sich auf den BI-Versammlungen an rustikalen Holztischen begegnen; Treffen, die kein Ende finden wollen, was ist nicht alles zu besprechen. Übernachtet dann doch bei ihm, der sein Glück gar nicht fassen kann und dann fängt alles wieder von vorne an. Dabei hat er zwei Kinder und Frau in Berlin, die entsprechend bald aufkreuzen werden.

In der Anti-AKW-Szene wussten wir, ich und meine Land-WG-Bewohner, wer diese C. ist, auch wenn ihr Vorname natürlich nicht mit C anfing. Sie lief uns ja ständig über den Weg, bald war sie auch in den Fernseh-Nachrichten zu sehen. Wir wussten auch, dass sie getobt haben soll, wochenlang, als Buchs Buch erschien. Was nun mal der Preis des Landlebens ist: Du gehst einmal schräg über den Dorfplatz und fünf Minuten später wissen es alle.

Und so tauche ich immer wieder in diese damalige Welt ein, wenn ich Buchs Gorleben-Buch in die Hand nehme, oft pikiert über seine Schonungslosigkeit immer auch das Private der Anderen preiszugeben, aber immer auch fasziniert von der Radikalität genau dies zu tun. Was nun richtig sein mag, fest steht: Wann immer ich in meinem Leben wieder umziehen sollte und wohin es auch geht: Das Buch-Buch kommt mit.

Hans Christoph Buch: Bericht aus dem Inneren der Unruhe – Gorlebener Tagebuch. 464 Seiten, Erstausgabe: März Verlag 1979, derzeit ist es nur antiquarisch zu bekommen

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