talk of the town
: Krieg um Demokratie

Trump verhält sich wie ein Tyrann. Doch nur weil er mit komplizierten demokratischen Strukturen überfordert ist, müssen wir es nicht sein

Hier wird der von Trump ausgerufene Sieg schon bejubelt: Triumph am Wahlabend in Las Vegas Foto: John Locher/ap

Von Doris Akrap

Es ist nicht so, wie alle gedacht haben. Nein, es ist so: Der US-Präsident ruft zum Putsch gegen das demokratische System auf und erntet dafür Applaus von den einen (so viel war klar) – und von vielen anderen ein Schulterzucken. „Nicht überraschend“, sagen die Abgebrühten und Superchecker. Nicht überraschend?

Wem die Rede von Donald Trump in der Wahlnacht nicht überraschend genug ist, hat die Demokratie aufgegeben. Wer jetzt mit den Schultern zuckt, zuckt auch mit den Schultern, wenn Trump in zwei Jahren sagt: „Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten.“

Es ist nicht überraschend, dass der amtierende Präsident eines demokratischen Landes in der am meisten beachteten Präsidentschaftswahl der ganzen Welt sagt, dass ihm der Sieg geklaut wird? Obwohl noch lange nicht alle Stimmen ausgezählt sind? Nicht überraschend, dass dieser Präsident von „Betrug am Wähler“ spricht und damit seine eigene Bevölkerung, also die, die zur Briefwahl geht, als Betrüger bezeichnet? Nicht überraschend, dass er dazu auffordert, das Zählen der Briefwahlstimmen zu beenden und dass er dazu vor das oberste Gericht ziehen werde?

Wer – zu Recht – Twitter und Facebook für seine Toleranz der Intoleranz kritisiert (siehe Nazi-Netzwerke), kann nicht einfach nur mit den Schultern zucken, wenn ein Präsident die Demokratie angreift – nur weil man wusste, dass es so kommen würde. Nur weil der Präsident angekündigt hatte, die Briefwahl nicht zu akzeptieren, müssen wir es ja nicht tun.

Es ist fast so, als könnten wir vor lauter Empörung über dieses und jenes in der Welt gar nicht mehr erkennen, was ein Ereignis ist, dass jedem Demokraten dieser Welt die Sprache verschlagen muss. Trump verhält sich in der Wahlnacht so, wie wir es aus autokratischen, modernen Diktaturen kennen: Wer nicht für mich stimmt, dem drohe ich mit der Staatsgewalt. Und vorher sorge ich mit aller Kraft dafür, dass diese ihre Entscheidungen so trifft, wie es mir passt. Es scheint, als würden wir uns damit zufriedengeben, dass jetzt Twitter die Worte des Präsidenten als „irreführend“ kennzeichnet.

Aber nur weil dieser Tyrann von komplizierten demokratischen Prozessen überfordert ist, müssen wir es nicht sein. Nur weil der Präsident jetzt berechenbar geworden ist, sollten wir es nicht sein. Ja, es ist sehr eng dieses Mal. Und ja, es dauert eben, bis alle Stimmen ausgezählt sind. Aber auch das war zuvor bekannt.

Dass das US-Wahlsystem nicht mehr adäquat ist, dass die Registrierung der Wähler eine unverhältnismäßige Hürde darstellt, all das stand bei dieser Wahl nicht zur Abstimmung. Am Ende ging es um zwei Namen. Unabhängig davon, ob Biden oder Trump Präsident wird: Donald Trump konnte zum Zeitpunkt seiner Rede in der Wahlnacht das Ergebnis nicht kennen. Es ging ihm nur um eins: Chaotisierung.

Wem die Rede von Trump in der Wahlnacht nicht überraschend genug ist, hat die Demokratie aufgegeben

Wir befinden uns mitten im Krieg um die Demokratie. Und wer dafür Anschauungsmaterial braucht, der gucke sich auf CNN die aufgeregten Moderatoren an, wie sie den Zuschauern eindringlich ins Gewissen reden, nicht zu glauben, was der Präsident gesagt hat, und abzuwarten, bis die Ergebnisse da sind.

Wenn der Präsident seinen Landsleuten sagt, sie sollen das Zählen der Stimmen beenden, sollten wir es nicht tun. Es gibt aber jetzt US-Amerikaner, die morgen früh aufstehen und sich entscheiden müssen, ob sie gegen den Willen ihres Präsidenten ihren Job erledigen sollen: Stimmen auszählen.

Das ist der Irrsinn. Und nicht dass wir am Mittwochmorgen noch kein Ergebnis haben. Dass wir das Ergebnis erst kennen, wenn es da ist, das ist Demokratie.