: Kleeblatt für den Notfall
Schon jetzt sind die Intensivkapazitäten durch Covid-Patient:innen stärker ausgelastet als im Frühjahr. Was passiert, wenn die Stationen tatsächlich überlastet sind?
Alexander Poppinga, Klinikvorstand aus Oldenburg, über die Notfallpläne
Von Lukas Gilbert
Wenn es etwas gibt, das dem deutschen Gesundheitswesen nicht vorgeworfen werden kann, dann ist es momentan wohl mangelnde Transparenz mit Blick auf die freien Intensivbetten im Land. Über das sogenannte Intensivregister ist für jede:n nachvollziehbar, wo es langsam eng wird mit den freien Intensivbetten – und wo noch Luft ist.
Wer sich so durch die bunten Karten des Registers klickt, sieht: Im Großen und Ganzen ist da momentan noch Luft. Aber was, wenn sich das ändert? Schließlich übersteigt die Anzahl der Covid-Patient:innen auf deutschen Intensivstationen mit 3.316 schon heute die Höchststände aus dem Frühjahr. Und Mediziner wie Alexander Poppinga, Vorstand des Evangelischen Krankenhauses in Oldenburg, warnen bereits: „Wir sehen, dass die Kapazitäten stündlich schrumpfen.“ Infiziert sich das Personal, kann sich die Situation in einzelnen Kliniken außerdem ziemlich plötzlich verschlimmern.
Schon im Frühjahr haben einige Krankenhäuser deshalb damit begonnen, sich besser zu vernetzen. In Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein etwa gibt es Cluster, in denen sich die Kliniken trägerübergreifend zusammenschließen – auch um im Falle von Überlastungen Intensivpatient:innen untereinander zu verlegen.
Matthias Gründling organisiert das Covid-19-Cluster III in Mecklenburg-Vorpommern, das die Landkreise Vorpommern-Rügen und Vorpommern-Greifswald umfasst, von der Uniklinik Greifswald aus. „In der zweiten Welle ist diese Kooperation jetzt umso wichtiger. Einfach weil die Zahlen höher sind“, erklärt der Mediziner. „Da stehen wir in ganz engem Kontakt und würden uns auch unterstützen, wenn es in einem Landkreis ganz besonders hohe Zahlen geben sollte.“
In Niedersachsen würden die Kliniken ohnehin seit Jahren intensiv kooperieren, berichtet Alexander Poppinga aus Oldenburg, der auch im Beirat der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft sitzt. Trotzdem schlägt er aber Alarm: „Die Situation bei uns im Weser-Ems-Bereich spitzt sich täglich zu. Die Welle im März, April ist gut an uns vorbeigegangen. Jetzt sieht das anders aus.“
In den nächsten Wochen erwartet Poppinga eine weitere Zuspitzung: „Die Patienten, die heute infiziert sind, sind in zwei Wochen bei uns auf der Intensivstation.“ Um liquide zu bleiben, müssten die Kliniken auch eigentlich verschiebbare Operationen weiter durchführen. Die Intensivkapazitäten kämen so immer mehr an ihr Limit. Der Klinikleiter fordert deshalb Unterstützung, wie die Freihaltepauschalen, die es schon im Frühjahr gab.
Ärzt:innen aus nördlichen Bundesländern, in denen die Lage noch weniger dramatisch ist, sehen das ganz ähnlich. So berichtet etwa der Greifswalder Cluster-Manager Gründling: „Wir haben hier viele Betten freigehalten und einen Anteil der planbaren OPs verschoben. Damit riskierten die Kliniken momentan einen wirtschaftlichen Ausfall.“
Derweil geben sich die Verantwortlichen in den Ministerien noch betont entspannt. Anstiege werden überall registriert, doch auch in den Gegenden mit vergleichsweise hohen Infektionsraten halten sich die Sorgen in Grenzen. „Die Hamburger Intensivkapazitäten sind derzeit nicht überlastet und könnten nötigenfalls vor Eintritt in eine Überlastung noch erweitert werden“, heißt es etwa aus der Hamburger Gesundheitsbehörde.
Und tatsächlich: Laut Intensivregister sind in den norddeutschen Bundesländern noch 1.350 Intensivbetten frei. 355 sind mit Corona-Patient:innen belegt.
Für den Fall der Fälle gibt es außerdem Vorkehrungen. Gemeinsam mit den Ländern hat das Bundesinnenministerium ein Konzept entwickelt, das greifen soll, wenn Intensivstationen überlastet sind und die bisherigen Klinik-Kooperationen nicht mehr ausreichen: Jeweils mehrere Bundesländer bilden demnach ein sogenanntes Kleeblatt und organisieren mögliche deutschlandweite Verlegungen von Intensivpatient:innen.
Für Norddeutschland heißt das: Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern schließen sich zusammen. Koordiniert wird dieses Kleeblatt im „Kompetenzzentrum Großschadenslagen“ im niedersächsischen Innenministerium. Diese zentrale Stelle nennt sich im internen Sprachgebrauch „Single Point of Contact“, kurz SPOC. Hier können sich die norddeutschen Bundesländer melden, wenn sich abzeichnet, dass die Intensivkapazitäten zu stark belastet werden.
Grundlage des Konzepts ist ein Ampelsystem, das aktuelle Fallzahlen und verfügbare Intensivbetten in den Blick nimmt. Der norddeutsche SPOC setzt sich im Zweifelsfall mit den SPOCs der anderen Bundesländer in Verbindung und erfragt, welche Kliniken Patient:innen aufnehmen können. Ist eine Klinik gefunden, setzen sich abgebende und aufnehmende Ärzt:innen miteinander in Verbindung und organisieren die Verlegung. Sie entscheiden auch, welche Patient:innen verlegt werden.
Diese Planungen seien schon ziemlich konkret, heißt es von Ministerien und Ärzt:innen. „Das regional gestufte Kleeblattkonzept wird dabei helfen, freie Kapazitäten zu nutzen und gleichzeitig unnötig lange Transportwege zu verhindern“, teilt das Gesundheitsministerium Schleswig-Holstein mit. Die Koordinierungsstellen in den Bundesländern sind benannt und bereit zu starten, und auch die ADAC-Luftrettung oder das Deutsche Rote Kreuz sagen, dass sie auf Transporte von Covid-Intensivpatient:innen gut vorbereitet sind.
Alexander Poppinga aus Oldenburg, der in die Kleeblatt-Planungen eingebunden ist, warnt dennoch eindringlich vor einer Situation, in der deutschlandweite Verlegungen tatsächlich notwendig werden sollten. „Covid-Intensivpatienten sind äußerst instabil und werden durch einen Transport mehr gefährdet, als wenn sie in dem Haus blieben, wo sie behandelt werden können“, sagt er. Und auch für die Angehörigen sei es eine Belastung, wenn Patient:innen plötzlich in andere Bundesländer verlegt würden.
Poppinga hofft deshalb, dass die Kleeblatt-Pläne in der Schublade bleiben können. „Es ist ein Worst-Case-Szenario, für den Fall, dass gar nichts mehr geht – aber wenn das eintritt, dann haben wir alles andere falsch gemacht.“
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