Eine graue Zone

Die Grauen Wölfe sind eine rechtsextreme Organsisation, die so schnell wie möglich verboten werden muss. Das Problem: Die Organisation ist tief im türkischen Mainstream verwurzelt – und Teil der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik

Berlin, 17. Oktober: Graue Wölfe zeigen bei einer anti­armenischen Demonstration den Wolfsgruß Foto: Florian Boillot

Von Ali Çelikkan

Die Grauen Wölfe haben den Vater von Aylin Tekiner getötet, im Juni 1980, in einem Lebensmittelladen. Sie war damals zwei Jahre alt. Ihr Vater, Zeki Tekiner, war Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP in der zentralanatolischen Provinz Nevşehir.

Am Tag nach seiner Ermordung haben die „Idealisten“, die „ülkücü“, wie sich die Grauen Wölfe in der Türkei nennen, die Trauerfeier angegriffen. Der Sarg von Zeki Tekiner wurde von 13 Kugeln getroffen. Aylin Tekiner hat das alles erzählt bekommen. Die Künstlerin, die heute in New York lebt, erzählt es jetzt der taz in einem Telefongespräch.

Im Juli wurde Ömer Ay, der verurteilte Auftraggeber des Mordes an ihrem Vater, in Nevşehir zum Vorsitzenden der İyi Parti gewählt, einer türkischen Oppositionspartei, die sich von der ultranationalistischen MHP abgespalten hat. Die İyi Parti sieht sich selbst als wahre Vertreterin der „idealistischen“ Ideologie und führt gemeinsam mit der CHP die Opposition gegen die Erdoğan-Regierung an.

Aylin Tekiner hat bei der CHP vergeblich dagegen protestiert. „Ein Fehler, der nicht zu entschuldigen ist, ein Verrat“, sagt sie. Nach dem Mord an ihrem Vater war Ömer Ay nach Deutschland geflüchtet. Bei einer Verkehrskon­trolle wurde er festgenommen und 1982 an die Türkei ausgeliefert. Dort wurde er zwar zum Tode verurteilt, kam aber nach ein paar Jahren Haft wieder frei.

Dass die CHP prinzipiell kein Problem mit den Ultranationalisten hat, sieht man auch daran, dass der CHP-Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, selbst als Anhänger der Grauen Wölfe gilt. Die Geschichte von Tekiner steht beispielhaft dafür, dass die Ideologie der Grauen Wölfe in der Türkei heute kein Randphänomen, sondern Mainstream ist; aber auch dafür, dass die Grauen Wölfe eine lange Geschichte mit der Bundesrepublik verbindet.

Der Weg so mancher „Idealisten“, die in der Türkei ab den 1970er Jahren politische Morde begingen, führte durch Deutschland. Aber auch das Mordgeschehen selbst kam nach Deutschland. Im Januar 1980 wurde Celalettin Kesim, ein Mitglied der Türkischen Kommunistischen Partei, in Berlin-Kreuzberg von Grauen Wölfen getötet. Seyfettin Kalan wurde 1995 in Neumünster, Ercan Alkaya 1997 in Kiel und Erol Ispir 1999 in Köln von Grauen Wölfen ermordet.

Seit die MHP, als deren Anhänger die Grauen Wölfe gelten, und die AKP eine Regierungsallianz eingegangen sind, richtet sich die Gewalt der Grauen Wölfe in Deutschland nicht nur gegen Kurd:innen, Alevit:innen und Armenier:innen, sondern auch gegen Menschen, die sich gegen die Regierungspolitik unter Erdoğan positio­nieren.

Nachdem Graue Wölfe Ende Oktober in Lyon ein Mahnmal für die Opfer des Völkermords an den Armenier:innen geschändet hatten, wurden sie in Frankreich verboten. Nun wollen deutsche Parteien nachziehen. Laut dem Verfassungsschutzbericht 2019 gibt es in Deutschland derzeit mindestens 11.000 Mitglieder von Organisationen der Grauen Wölfe. Der größte dieser Vereine heißt Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland (ADÜTDF), wurde 1978 gegründet und gilt als verlängerter Arm der MHP. Außerdem sind die Organisationen Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (ATİB) und die Föderation der Weltordnung in Europa (ANF) aktiv.

Aber kann man eine Ideologie verbieten, die Opposition und Mainstream zugleich ist? Der Politikwissenschaftler Tanıl Bora schreibt, die Grauen Wölfe würden als lynchende Mobs vorgehen: „Es geht um machistische Solidarität, eine Erfahrung der Gemeinschaft, um Freude daran, sich zu versammeln und loszuziehen, um Menschen zu verprügeln.“ Zentrales Merkmal sei eine patriarchale Kultur des Heldentums, mit der sie versuchten, eine „traditionell-provinzielle Männlichkeitskultur zu re­stau­rieren“. Die Psychologie dieser Ideologie ist geprägt von historischen Ereignissen wie den Balkankriegen vor über 100 Jahren, dem Ersten Weltkrieg, dem Krieg mit Griechenland 1919–1921 und einer zentralen Erzählung, die aus diesen Erfahrungen entstand: „Die ganze Welt ist gegen uns.“ Und diese Ideologie kann bis heute nur existieren, wenn sie immer neue Feinde findet.

In der jüngeren türkischen Geschichte waren es vor allem Kommu­nis­t:in­nen, gegen die die Grauen Wölfe kämpften. Nach dem Militärputsch 1980 wurden viele Mitglieder inhaftiert. Aber sie glaubten daran, dass ihre antikommunistischen Ideen es an die Staatsspitze geschafft hatten.

Als der Eiserne Vorhang gefallen war, die PKK in den 1990ern den bewaffneten Kampf aufnahm und in den 2000er Jahren Erdoğan Zuspruch vom Westen bekam, setzte sich in kemalistischen Teilen der Bevölkerung ein antiwestliches Ressentiment durch, sie näherten sich den Ultranationalisten. Als der bewaffnete Kampf im Südosten der Türkei 2015 neu eskalierte und Erdoğan eine harte Haltung in der Kurdenfrage einnahm, solidarisierten sich die Grauen Wölfe mit ihm.

Weil ab den 1950ern Konservative aus der Provinz, wo die Vorgängerpartei der MHP besonders agitiert hatte, in die Metropolen migrierten, popularisierte sich die „idealistische“ Bewegung. Viele derer, die zum Arbeiten nach Deutschland kamen, stammten auch aus ländlichen Regionen. Die sozioökonomischen Verwerfungen, die die Landbevölkerung bis dahin durchlebte, und die Erfahrungen der Entfremdung in türkischen oder deutschen Städten, die auf die Migration folgten, waren wichtige Faktoren, die zu Ideologisierung und Radikalisierung beitrugen.

Zugleich gibt es einen Unterschied zwischen den Konstitutionsbedingungen der Bewegung in Deutschland und in der Türkei: Während sich die Ideologie in der Türkei aus einer antiwestlichen Paranoia speiste, wurde sie in Deutschland von tatsächlich erfahrener Feindseligkeit befeuert: Mölln, Solingen und die NSU-Morde waren nur die Spitze der rassistischen Angriffe auf türkischstämmige Migrant:innen in Deutschland.

Sie politisierten diese Menschen, verstärkten türkisch-nationalistische Gefühle und die Erzählung des „Alle gegen uns“. Hinzu kamen der alltägliche Rassismus und die ökonomische Ausbeutung. Nach dem Urteil im NSU-Prozess 2018 sagte ADÜTDF-Vorsitzender Şentürk Doğruyol: „Die Behörden sollten fähig sein, sich vor der türkischen Bevölkerung zu schämen.“

Das Gefühl der Bedrohung scheint sich in Teilen der türkischstämmigen Bevölkerung wiederum in ein Gefühl der Feindseligkeit gegen alle als anders wahrgenommene Menschen verwandelt und als solches verstetigt zu haben, was sich dann regelmäßig in Aggressionen gegen Kur­di:in­nen oder Ale­vi­t:in­nen entlädt. Es wurde auch als Doppelmoral empfunden, dass die Nachkommen der Nazitäter türkischstämmige Menschen töten und das deutsche Parlament sich gleichzeitig mit dem Genozid an den Ar­me­nie­r:innen befasst. Die Geschichte der Grauen Wölfe in Deutschland ist also auch Teil der Migrationsgeschichte Deutschlands.

Vereine kann man verbieten. Um gegen Ideologien vorzugehen, braucht es mehr

Das ändert nichts daran, dass sich die Grauen Wölfe ideologisch kaum von Neonazis unterscheiden, die in den 1990ern Häuser türkischer Familien anzündeten. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus veröffentlichte im Jahr 2016 einen Bericht über die Grauen Wölfe, laut dem Neonazis und Graue Wölfe sich insbesondere im Kampf gegen Kommunist:innen als Partner begriffen.

Alparslan Türkeş, die historische Führungsfigur der MHP, schrieb 1977 in einem Brief an türkische Kameraden in Deutschland, dass man doch von den „Erfahrungen und Methoden“ der NPD „profitieren“ solle. Insofern ist die Geschichte der Grauen Wölfe in Deutschland eine Geschichte von Paradoxie: Als eine Form der Kompensation lieferten die Grauen Wölfe eine diskriminierende Ideologie für Menschen, die in Deutschland diskriminiert wurden, und sahen sich als Verbündete jener, die ihre Anhänger diskriminierten.

„Sie bedrohen das Wohl der Bundesrepublik. Deutschland wird die Grundwerte der Verfassung verteidigen“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir gegenüber der taz zu den Bestrebungen, die Grauen Wölfe zu verbieten. Er gehört zu den wichtigsten Vorantreibern des Vorhabens. Am Mittwoch hat der Bundestag einen interfraktionellen Antrag von Union, SPD, FDP und Grünen diskutiert, dass ein Verbot der Grauen Wölfe geprüft werden soll. Die Linke und die AfD stellten diesbezüglich jeweils eigene Anträge.

Aylin Tekiner ist nicht davon überzeugt, dass ein Verbot das Problem lösen wird. Sie verweist auf Vereinsverbote in der Türkei, die wirkungslos geblieben sind. „Wenn die Vereine geschlossen werden, wird Erdoğan den Mob aufhetzen“, meint sie.

Vereine kann man verbieten. Um gegen Ideologien vorzugehen, braucht es mehr. Und die radikalste Form der nationalistischen Ideologie, die Ideologie der Grauen Wölfe, war noch nie so einflussreich wie heute.

Aus dem Türkischen von Volkan Ağar