Wo das Virus tötet, wächst auch die Armut

Kaum irgendwo auf der Welt wütet Covid-19 bislang so verheerend wie in Südamerika. Zugleich stürzen die scharfen Gegenmaßnahmen weite Bevölkerungsteile ins Elend

Lima, 1. November: Marta Yancas beerdigt ihre Mutter. Perus Friedhöfe sind coronabedingt geschlossen, nur fünf Angehörige dürfen einer Beisetzung beiwohnen Foto: Rodrigo Abd/ap

Aus Buenos Aires Jürgen Vogt

Ramona Medina starb im Mai. Die 42-Jährige lebte im Barrio Padre Mugica (Villa 31), einem Armenviertel der argentinischen Hauptstadt Bue­nos Aires mit rund 50.000 Ein­woh­ne­r*in­nen. Dort arbeitete sie im Gesundheitshaus für Frauen. Als damals für das Händewaschen als eine der wichtigsten Covid-19-Präventionsmaßnahmen geworben wurde, hatte sie in einem viel geklickten Video beklagt, dass sie und ihre achtköpfige Familie, wie viele andere Familien im Viertel, seit Tagen kein Wasser hätten. Mit verzweifelter Stimme warnte sie vor der großen Ansteckungsgefahr für die Menschen, die in den Armenvierteln auf engstem Raum zusammenleben.

Schon vor der Pandemie lebten 35,4 Prozent der rund 45 Millionen Argen­ti­nie­r*in­nen unterhalb der Armutsgrenze. Viele von ihnen leben in Vierteln, wie sie von Ramona Medina beschrieben wurden. Inzwischen sind es 40,9 Prozent. Das sind 2,6 Millionen Arme mehr als zu Beginn der Pandemie. Die Zunahme der Armut ist eine direkte Folge der Quarantänemaßnahmen, mit denen auch in Südamerika Regierungen auf das Auftauchen des neuartigen Coronavirus reagierten.

Inzwischen hat Argentinien die längste Coronaquarantäne Südamerikas. Am 12. März schloss Präsident Alberto Fer­nán­dez die Landesgrenzen, am 16. März die Schulen, und am 20. März stellte er das ganze Land unter Quarantäne. Zu diesem Zeitpunkt waren gerade 128 Infizierte registriert. Zwei Monate später meldete Argentinien 32.000 Infektionsfälle. „Die Quarantäne hat uns einen ruhigen März und April beschert“, sagte der Mediziner Luis Cámera, der dem Beraterstab des argentinischen Präsidenten angehört. „Aber als das Virus im Mai die Armenviertel erreichte, hat es sich mit einer Geschwindigkeit ausgebreitet, die uns alle überrascht hat.“

Auch Perus Präsident Martín Vizcarra hatte früh reagiert. Am 15. März schloss er die Landesgrenzen und verhängte eine strikte Quarantäne inklusive Lockdown. Damals registrierte Peru nur 71 Infektionsfälle. Zwei Monate später waren es bereits 230.000.

San Marino: 1.237

Peru: 1.042

Belgien: 1.011

Andorra: 970

Spanien: 767

Brasilien: 751

Bolivien: 745

Chile: 743

Ecuador: 715

USA: 713

Mexiko: 710

Großbritannien: 687

Argentinien: 687

Italien: 642

Panama: 624

Kolumbien: 617

Schweden: 587

Frankreich: 567

Quelle: worldometers.info/coronavirus, Stand 2.11.2020

Seit Mitte August fällt in Peru die Zahl der Neuinfizierten, während sie in Argentinien immer steiler ansteigt. Offensichtlich holt Argentinien nach, was in Peru längst passiert war: die rasante Ausbreitung von Covid-19 in den Armenvierteln.

Noch beklagt Peru mit aktuell knapp über 34.500 Toten mehr Covid-19-Opfer als Argentinien mit rund 31.100. Aber beide Länder gehören laut Johns-Hopkins-Universität zu den zehn am schlimmsten von der Pandemie betroffenen Ländern weltweit. Peru liegt auch seit einiger Zeit weltweit an der Spitze der großen Flächenstaaten, was die Zahl der Covid-19-Toten im Verhältnis zur Bevölkerung angeht.

Angesichts der Zahlen ist der Erfolg der Quarantänemaßnahmen in beiden Ländern zweifelhaft – aber der wirtschaftliche und soziale Preis ist schon jetzt sehr hoch. In Peru wird der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Bevölkerung von 20,2 Prozent im Vorjahr bis Ende 2020 als direkte Folge der Pandemie auf 30,3 Prozent steigen, heißt es in einer gerade veröffentlichten Unicef-Studie. Das wären 3,3 Millionen Menschen mehr als zuvor.

Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) rechnet damit, dass die Pandemie in ganz Lateinamerika und der Karibik im laufenden Jahr weitere 45,4 Millionen Menschen in die Armut stürzen könnte. Damit gäbe es in der Region 230,9 Millionen Arme. Und nach den jüngsten Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die peruanische Wirtschaft bis Jahresende um rund 14 Prozent schrumpfen, die argentinische um rund 12 Prozent. Für die ganze Region rechnen die IWF-Analysten mit einem Minus von 8,1 Prozent.

„Als das Virus die Armenviertel erreichte, hat es sich mit einer Geschwindigkeit ausgebreitet, die uns alle überrascht hat“

Luis Cámera, Präsidentenberater in Argentinien

Wie viele Arbeitsplätze dadurch bereits verlorengegangen sind, ist schwer einzuschätzen. Denn in Peru macht der informelle Sektor, der statistisch unzureichend erfasst wird, Schätzungen zufolge 60 Prozent der gesamten wirtschaftlichen Aktivität aus, in Argentinien über 40 Prozent.

„Lateinamerika hatte genügend Zeit, sich gut auf die Pandemie vorzubereiten“, heißt es in einer Studie der Johns-Hopkins-Universität, in der fünf Länder Lateinamerikas untersucht wurden, darunter auch Peru. Die Studie stellt in Frage, ob frühe und langanhaltende Quarantänemaßnahmen in Lateinamerika tatsächlich Erfolge versprechen. Als für die Region typische Risikofaktoren werden die informelle Arbeitswelt, das Zusammenwohnen auf engstem Raum sowie die schwachen Gesundheitssysteme mit zu wenigen Krankenhäusern genannt. Ein Großteil der Bevölkerung sei gezwungen, das Haus zu verlassen, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Dazu kommt, dass sich in den zahlreichen Armenvierteln viele Familien eine Küche und ein Badezimmer teilen. „Es gibt keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Reaktionsfähigkeit [der Regierungen] und Gesundheitsergebnissen“, der eine erfolgreiche Eindämmung des Virus belege, so das Fazit der Studie. Zwar sei die gewonnene Zeit für Verbesserungen im Gesundheitssystem genutzt worden, aber viel zu spät und ungenügend sei mit dem „Testen, Tracen, Isolieren“ begonnen worden.

In Peru sind seit einer Woche nahezu alle Quarantänemaßnahmen aufgehoben. Nur die nächtliche Ausgangssperre ist weiterhin in Kraft. Dagegen verlängerte Argentiniens Präsident Alberto Fernández kürzlich die geltenden Einschränkungen um weitere zwei Wochen. „Das Virus grassiert nicht mehr nur in den großen Städten, sondern auch in den kleinen Dörfern“, sagte er.