: Sogar vor den Ärzten machen sie nicht halt
Darf ein Mediziner in seiner Freizeit an einer Protestaktion teilnehmen? Minsker Tagebuch vom 30. 10. 20
Auf einer der Hauptstraßen von Minsk wurden unlängst bei einer Solidaritätsaktion zehn Mediziner des Zentrums für Kardiologie festgenommen. Die Ärzte waren vor dem Beginn ihrer Arbeit gekommen und trugen weiße Kittel. Dann kam eine Sondereinheit der Polizei und brachte sie weg. Aus diesem Grund war die Arbeit der gesamten Abteilung blockiert, die sich um die Erstversorgung nach Infarkten kümmert. Auch Operationen wurden verschoben.
Ich möchte die Sicherheitskräfte fragen: „Gibt es in Belarus Unsterbliche, die vor nichts mehr Angst haben? Die keine Verwandten, ihnen nahe stehende Personen oder Freunde haben, die in Gefahr sind und jetzt keine Diagnose und Behandlung bekommen, weil der entsprechende Spezialist festgenommen wurde? Wie kann man die Hand an Ärzte legen, die friedlich auf der Straße stehen? Zu allen Zeiten gilt die Regel: Finger weg von denjenigen, die Leben retten! In Belarus jedoch sind unmenschliche Zeiten angebrochen.
So gegen Mittag wurden die Ärzte des Kardiologiezentrums auf freien Fuß gesetzt. Wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Aktion erhielten alle eine Ordnungsstrafe.
Auf Facebook postete ein Arzt: „Im Bewusstsein eines durchschnittlichen Menschen steht ein Arzt außerhalb der Politik. Das ist eine richtige Aussage: Kein Arzt darf jemandem aus politischen Motiven Hilfe verweigern und minderwertige Hilfe leisten.
Ein Mediziner wird jedoch NIEMALS da schweigen, wo Menschenrechte verletzt werden. Wir haben versprochen und geschworen, für das Leben und die Gesundheit der Menschen zu kämpfen. Aber man hindert uns nicht nur daran, unser Gelübde zu erfüllen, sondern auch noch, darüber zu sprechen. Uns wird verboten, über die krassen Verbrechen zu reden, die der Staat an Menschen verübt.
Wenn ein Student der Medizin in der Halle der Universität auf der Treppe sitzt und das belarussische Volkslied „Kupalinka“ singt, wird er stigmatisiert und gewarnt, dass er bei den Examina Probleme bekommen wird. Wenn Ärzte in ihrer Freizeit auf eine friedliche Kundgebung gehen und einen Erste-Hilfe-Kasten dabeihaben, falls sie jemandem helfen müssen, werden sie festgenommen, beleidigt, hinausgeschmissen und von der Hochschule verwiesen. Dann geht es wieder los: Man beleidigt und erniedrigt sie und kippt Dreck über ihnen aus.
Wenn ein Arzt in den sozialen Medien von den Vorgängen berichtet, wird er ebenfalls bedroht, und ihm wird gesagt, dass er nicht das Recht habe, seinen Mund aufzumachen. Ich schreibe über Ärzte, weil ich selbst einer bin.
In meinem Post kann man das Wort „Mediziner“ durch jedes andere ersetzen: Lehrer, Ingenieur, Hausfrau, Rentner. Mensch. In Belarus werden Menschenrechte verletzt, deshalb können Mediziner, Lehrer, Ingenieure, Hausfrauen, Rentner, ja die MENSCHEN nicht länger schweigen. Als jemand mit einer abweichenden Meinung erinnere ich daran, dass man eine bessere Welt nicht auf Angst, Schweigen der Menschen, Blut und Schmerz aufbauen kann. Wir werden nicht schweigen. Wir haben eine Stimme. Wir sind da. Janka Belarus
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
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