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Eine kleine Revolution durch den Hinterhof

Zwischen Plattenbauten in einem Minsker Stadtteil findet Demokratie von unten statt. Allabendlich treffen sich hier Anwohner zu gemeinsamen Aktionen. Das ist ihr Beitrag zu den Protesten gegen das Regime. Der „Platz der Veränderungen“ ist bereits jetzt legendär

Von Janka Belarus

Es war ein trister Hof inmitten von typischen Neubauten, mit Parkplätzen und einem Kinderspielplatz. Bis August kannte ihn keiner. Doch dann änderte sich alles. Bei einer Kundgebung für Präsident Alexander Lukaschenko, die in der Nähe stattfand, spielten die DJs Wlad Sokolowski und Kirill Galanow das Lied „Wir warten auf Veränderungen“.

Das war mutig, weil die beiden Jungs dafür zehn Tage in Haft kamen, ihren Arbeitsplatz verloren und das Land verlassen mussten. Doch die DJs waren zu einem Symbol des Protests in Belarus geworden. In einem Minsker Hinterhof, an der Wand eines Gebäudes, tauchte ein Gemälde auf – mit dem Konterfei der DJs und der Aufschrift „Platz der Veränderungen“. Kurz darauf begannen sich dort abends Menschen aus der Nachbarschaft zu versammeln. Sie tranken Tee, aßen Kekse und lernten einander kennen.

„Wenn es diese spontane und freundschaftliche Bewegung nicht gegeben hätte, hätte ich meine Nachbarn nie kennengelernt“, sagt ein junger Mann, der sich als Nikita vorstellt. „Jeden Abend von 20.30 bis 22 Uhr treffen wir uns hier und haben Spaß. Vor allem reden wir darüber, wie wir unseren Hof verschönern und wie wir diejenigen nerven können, die von Amts wegen zu uns kommen und gereizt auf diese Freiheitssymbolik reagieren. Wir wollen niemandem etwas Böses antun. Wir wollen unseren Hof schöner machen und hoffen, dass diese Initiative auch Menschen in anderen Stadtteilen von Minsk erreicht.“

Stück für Stück wurde der Hof mit historischen Attributen von Belarus geschmückt, die die Sicherheitskräfte zerstörten. Eine weiß-rot-weiße Flagge, die zwischen den Häusern gespannt wurde, versuchten Milizionäre gegen Mitternacht zu entfernen. Das gelang ihnen jedoch nicht, weil der Zugang zum Dach eines der Häuser mit einem Schloss gesichert war. Am frühen Morgen wurde die Fahne dann abgeschnitten, nachdem Mitarbeiter des Ministeriums für Katastrophenschutz mit einem Drehkran angerückt waren.

Daraufhin stellte einer der Bewohner am Fenster seines Appartements einen Projektor auf, der jeden Abend ein gigantisches Bild der Flagge an die Fassade des Nachbarhauses warf. Auch für den Zaun des Kinderspielplatzes dachten sich die Bewohner etwas aus. Eine Vielzahl von weiß-roten Bändern knoteten sie so zusammen, dass diese bei Wind wie eine wehende Fahne aussahen. Diese Bänder werden regelmäßig von Hauswarten und Milizionären zerschnitten, doch am nächsten Tag tauchen sie an der gleichen Stelle wieder auf.

„Wir sind gegen Gewalt. Aber wir sind auch gegen die Willkür und Gesetzlosigkeit der Sicherheitskräfte“, sagt Nikita. „Mit einigen Milizionären, die aus parkenden Autos die Vorgänge mit einer Videokamera filmen, sind wir schon auf du und du. Einmal hat jemand von uns ihnen sogar einen Kaffee angeboten.“

Bereits zehnmal haben die Behörden versucht, das Wandgemälde zu zerstören. Einmal haben sie die Wand sogar mit Bitumen behandelt. Doch die Bewohner sind schnell mit Wassereimern gekommen und haben die Wand abgewaschen. Eine Zeit lang war die Miliz im Hof rund um die Uhr präsent und hinderte die Bewohner daran, das Bild wiederherzustellen. Sobald sie den Ort aber für einen Moment verließen, war das Bild wie von Zauberhand wieder da.

Jeden Tag finden auf dem „Platz der Veränderungen“ Aktionen statt. Flashmobs, Tanzkurse, Fußballspiele im Freestyle und Basare mit handgefertigten Produkten. Oft kommen bekannte belarussische Musiker vorbei, um kostenlose Konzerte zu geben.

Aber auch Einheiten der Sonderpolizei Omon tauchten auf dem „Platz der Veränderungen“ auf, um Gäste festzunehmen, die aus anderen Stadtvierteln gekommen waren. Dann öffneten die Anwohner die Aufgänge ihrer Wohnblocks und versteckten die Menschen. Den Sicherheitskräften schrien sie entgegen: „Schande!“ Vorbeilaufende Passanten nahmen das alles mit einer wahrhaft zenbuddhistischen Ruhe auf: Habt ihr unsere Flaggen entfernt? Okay, dann hängen wir neue auf. Habt ihr unser Wandgemälde übermalt? Okay, dann waschen wir es ab. Wir werden uns nicht provozieren lassen.

„Unser Hof ist revolutionär geworden“, erzählen Anwohner und lächeln dabei. Schon morgens fragen unsere Kinder: „Papa, gehen wir heute protestieren? Für sie ist das alles eher ein Spaß. Für uns jedoch ist es wichtig, sie zu kritischem Denken zu erziehen.“

Ein angeblich legitimer Präsident, der nicht versteht, dass seine Zeit abgelaufen ist, bezeichnet uns als Kriminelle, die vom Westen bezahlt werden. Dabei merkt er nicht, dass er zur Bildung einer Bürgergesellschaft beiträgt, wenn die Menschen einander helfen.“

Am 15. September nahm die Konfrontation zwischen der Miliz und den Anwohnern eine dramatische Wendung. Unbekannte in Zivil und mit Masken nahmen den Anwohner Stepan Latypow fest. Er hatte sein Bild gesichert und die Unbekannten aufgefordert, ihre Dokumente zu zeigen. Die Männer nahmen ihn fest. Sie brachen seine Wohnungstür auf, nahmen persönliche Gegenstände, technische Geräte und Geld mit. Stepan ist in Haft – wegen Organisierung von Massenunruhen. Die Nachbarn ließ das nicht kalt: Sie suchten einen Anwalt und stellten ein „Buch mit warmen Worten für Stepan“ zusammen.

Der Anwohner Nikolai sagt zum Abschied: „Heute war ich 30 Minuten auf dem Spielplatz. In dieser Zeit sind 12 bis 15 Leute gekommen, um das Wandgemälde zu fotografieren oder Selfies zu machen. Ihr Blick verklärte sich, und diese Funken der Hoffnung leuchteten heller als die Sonne am Horizont. Ich kann meine Emotionen gar nicht beschreiben, wenn ich sehe, wie beseelt die Menschen diesen Ort verlassen. Dieser Platz ist ein Platz der Hoffnung. Solange dieses Symbol lebendig ist, verlieren die Menschen ihre Hoffnung nicht, und das gibt ihnen Kraft. Es lebe Belarus!“

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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