Ein Kampf mit allen Mitteln

Verletzen Lehrerinnen mit Kopftuch das Gebot der staatlichen Neutralität? Ein höchstrichterliches Urteil schien den Streit um das Berliner Neutralitätsgesetz beendet zu haben. Doch die Bildungsverwaltung will weiterkämpfen. Für die betroffenen Frauen bedeutet das eine weitere Hängepartie

„Bewerbungsfoto“, 2019 Foto: Foto:@ischraa

Von Susanne Memarnia

Es herrscht Verwirrung. Was ist nun mit dem Neutralitätsgesetz – gilt es, oder nicht? Muss es geändert werden? Und vor allem: Dürfen Frauen mit Kopftuch nun an Berliner Schulen unterrichten? Deutschlands höchstes Gericht in Arbeitssachen hatte letzteres kürzlich nahegelegt. Doch an der Einstellungspraxis hat sich bis heute nichts geändert.

Am 27. August verurteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG) Berlin zur Zahlung einer Entschädigung an eine Lehrerin. Die Bildungsverwaltung hatte sie mit Verweis auf das Neu­tralitätsgesetz, das bestimmten Berufsgruppen, darunter LehrerInnen, das Tragen religiös konnotierter Kleidung verbietet, abgelehnt. Dies gehe nicht, so die Richter: „Das Neutralitätsgesetz ist in diesen Fällen verfassungskonform dahin auszulegen, dass das Verbot des Tragens eines sogenannten islamischen Kopftuchs nur im Fall einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gilt.“ Sprich: Ein pauschales Berufsverbot ist Unrecht, weil es gegen die Freiheit der Religionsausübung verstößt. So hat es das Bundesverfassungsgericht 2015 vorgegeben – darin müsse sich Berlin halten, so die BAG-Richter.

Auf diese höchstrichterliche Entscheidung hatten viele gewartet – auch die rot-rot-grüne Koalition, die in Sachen Neutralitätsgesetz schon lange nicht einig ist. Grüne und Linke wollen es ändern, die SPD daran festhalten. Einig war man sich nur, dieses Urteil abzuwarten – und danach zu handeln. Daher fordert nun Sebastian Walter, Sprecher für Antidiskriminierungspolitik der Grünen-Fraktion, der Senat müsse zu einer Neubetrachtung des Gesetzes kommen. „Wir sind für eine gesetzliche Klarstellung, die Rechtssicherheit herstellt“, sagt er. „Unsere Erwartung ist, dass nun schnellstmöglich die bisherige Einstellungspraxis an den Schulen geändert wird.“

So sieht das auch die Klägerinnenseite. „Für die betroffenen Frauen ist das Urteil ein Meilenstein“, sagt Zeynep Çetin vom Verein Inssan und Projektleiterin des dort angesiedelten Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit. Das Netzwerk unterstützt und begleitet seit Jahren Lehrerinnen mit Kopftuch, die gegen die Bildungsverwaltung klagen – fast immer haben sie vor Gericht Recht bekommen. Auch die Klägerin im aktuellen Fall wird von Inssan unterstützt.

„Bewerbungsfoto“ heißt dieses Bild, fotografiert hat es die Berliner Künstlerin und Lehramtsstudentin ­@ischraa, und es zeigt sie selbst, eine blonde Perücke über dem weißen Kopftuch. „Das Bewerbungsfoto“ war Teil eines Projekts an der Universität der Künste, wo @ischraa im Master Grundschullehramt mit dem Schwerpunkt Bildende Kunst studiert. Das Selbstbild sei entstanden nach ihrer „deprimierenden Erfahrung mit dem Neutralitätsgesetz bei der Suche nach einem Praktikumsplatz“, hatte @ischraa dem UdK-Journal gesagt, das ihre Arbeit ebenfalls in einer Ausgabe abdruckte.

Die 24-Jährige, in Berlin geboren und aufgewachsen, die Eltern stammen aus Kairo, will anonym bleiben. @ischraa ist zugleich der Instagram-Kanal, auf dem sie sich mit ihrem Kopftuch auseinandersetzt. Die Fotos sind oft fragend, spielerisch, mit einer ironischen Selbstdistanz – und sehr politisch. Einen Praktikumsplatz hat die junge Muslima am Ende übrigens doch noch gefunden. Die Kinder hätte am Tuch lediglich interessiert, dass sie ja jeden Tag eine andere Farbe trage. (akl)

Zudem hat Çetin eine Betroffenengruppe gegründet, in der sich rund 40 Pädagoginnen mit Kopftuch – Studentinnen, Referendarinnen, Lehrerinnen – über ihre Situation austauschen. „Natürlich haben die Frauen gehofft, dass das Land ihnen jetzt gleichberechtigten Zugang und die freie Ausübung ihres Berufs gewährt.“

Die Hoffnungen wurden enttäuscht. Nach wie vor lehne die Schulverwaltung die Einstellung von Erzieherinnen und Lehrerinnen ab, berichtet Çetin. In einem Fall hat sie als Anwältin nun Klage erhoben beim Arbeitsgericht. Es geht um eine staatlich anerkannte Erzieherin, die an einer Grundschule Praktikum gemacht hatte – was mit Kopftuch erlaubt ist, ebenso wie das Referendariat – und als pädagogische Unterrichtshilfe einstellt werden sollte. „Vier Tage hat sie bereits dort gearbeitet, als die Schulleitung ihr mit Bedauern mitteilte, dass sie wegen ihres Kopftuchs doch nicht bei ihnen arbeiten dürfe“, berichtet Çetin. Der taz liegt ein anonymisiertes Schreiben des Kollegiums an die Schulaufsicht vor, aus dem hervorgeht, dass die Erzieherin „zur vollsten Zufriedenheit“ ihre Arbeit gemacht habe und an der Schule sehr erwünscht sei.

Das Beispiel zeigt: Es gibt Schulleitungen und Kollegien, die kein Problem mit Pädagoginnen mit Kopftuch haben. Zwar ist der Interessenverband Berliner Schulleiter ganz auf Linie der Bildungsverwaltung, die vor Gericht immer argumentiert hat, Lehrerinnen mit Kopftuch seien per se eine „Gefahr für den Schulfrieden“ – ohne dies je belegt zu haben. Beim Lehrerverband GEW sieht die Sache aber schon anders aus: Dort halten sich Befürworter und Gegner des Neutralitätsgesetzes etwa die Waage, sagt der Vorsitzende Tom Erdmann.

Dass bei Frauen und Schulleitungen nach dem Urteil große Hoffnung herrschte, sagt auch Miriam Aced, Sprecherin von #gegenBerufsverbot, einem Bündnis mehrerer Organisationen aus dem Antidiskriminierungsbereich. „In die Beratungsstellen unserer Mitglieder kommen nun immer wieder Frauen und sagen, sie wollen sich nun bewerben!“ Sie höre auch, dass Schulleitungen bereits „von oben“ gerügt worden seien, weil sie jetzt Lehrerinnen mit Kopftuch einstellen wollten.

„Es geht nicht um Neutralität des Staates, sondern um eine Ungerechtigkeit“

Katarina Niewiedzial, Integrationsbeauftragte des Senats

Auch die Integrationsbeauftragte des Senats, Katarina Niewiedzial, hat mit betroffenen Frauen gesprochen. Die Gespräche hätten ihr gezeigt: „Es geht schon lange nicht um die Neu­tralität des Staates, sondern um eine Ungerechtigkeit, von der ausschließlich gut qualifizierte Frauen betroffen sind. Berlin muss seine Einstellungspraxis ändern.“

Doch die Bildungsverwaltung denkt gar nicht daran. Man warte noch auf die schriftliche Urteilsbegründung, so der Sprecher von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Die möchte nun am liebsten vor das Bundesverfassungsgericht ziehen – und von dort zum Europäischen Gerichtshof. Diese Möglichkeit besteht theoretisch, da sich das BAG-Urteil auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bezieht, das die deutsche Umsetzung von EU-Recht ist.

Praktisch dürfte dieser Weg kaum Erfolgschancen haben, schließlich wurden die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien erlassen, um Minderheiten zu schützen – nicht, um sie zu diskriminieren. Dennoch hätten die Freunde des Neutralitätsgesetzes damit etwas gewonnen: Zeit. Und die Frauen hätten wieder ein paar Jahre verloren.