alexei nawalny
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Die Kanzlerin wechselt die Tonart

Es ist ja nicht nur der Fall Nawalny. Die Rhetorik der Bundesregierung gegenüber Russland wird schärfer. Aber welche Maßnahmen folgen sollen, ist ungewiss. Die EU reagiert verhalten

Ob die Pipeline Baustelle bleibt? Der Fall Nawalny könnte das Ende von Nord Stream 2 bedeuten Foto: Paul Langrock/laif

Von Tobias Schulze
(Berlin) und Eric Bonse (Brüssel)

Zwei Russen mit Diplomatenpass mussten ihre Koffer packen. Es war der 4. Dezember des vergangenen Jahres: Der Generalbundesanwalt hatte gerade die Ermittlungen im Fall eines in Berlin getöteten Georgiers übernommen, die Behörde vermutete den russischen Staat hinter der Tat. Das Auswärtige Amt reagierte mit einer der härteren Symbolmaßnahmen, die die Diplomatie für solche Fälle vorsieht. Sie erklärte die beiden russischen Botschaftsangehörigen zu unerwünschten Personen.

Schärfere Schritte gegenüber Moskau als diese Ausweisung hat die Bundesregierung seitdem nicht unternommen. Ob sich das jetzt ändert?

Der Auftritt der Kanzlerin vom Mittwochabend deutete darauf hin. Wenige Stunden zuvor hatte die Regierung bekanntgegeben, dass Expert*innen der Bundeswehr im Blut des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny Spuren eines Nervenkampfstoffs gefunden haben. Nawalny, der vor zwei Wochen in Russland kollabierte, seitdem im Koma liegt und in Berlin behandelt wird, wurde demnach vergiftet. In einem kurzfristig anberaumten Presse­statement forderte Angela Merkel am Abend eine Erklärung von der russischen Regierung. „Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann“, sagte sie – und kündigte an, mit Nato und EU über eine „angemessene gemeinsame Reaktion“ zu entscheiden.

Aus Sicht der Bundesregierung ist in den vergangenen Monaten zu viel zusammengekommen: Nicht nur der Fall Nawalny, auch neue Ermittlungserkenntnisse zum Bundestagshack 2015, denen zufolge ein russischer IT-Experte verantwortlich war. Und der schon erwähnte Mord an einem Georgier in Berlin, der ab Oktober am Berliner Kammergericht verhandelt wird – ein Prozess, auf den deutsche Diplomat*innen schon seit Monaten gespannt warten.

20. August 2020: Alexei Nawalny besteigt in Tomsk ein Flugzeug nach Moskau. Auf dem Flug wird er bewusstlos. Nach einer Notlandung in Omsk wird Nawalny im dortigen Krankenhaus ins künstliche Koma versetzt. Mitreisende geben an, er habe außer einem Tee am Flughafen nichts zu sich genommen.

22. August: Nawalny wird nach Berlin geflogen und in die Charité gebracht.

24. August: Die Charité teilt mit, dass Befunde auf eine Intoxikation mit einer Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterasehemmer hinwiesen. Nawalny werde mit dem Gegenmittel Atropin behandelt.

28. August: Die Charité erbittet Unterstützung durch das Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr.

2. September: Die Bundesregierung erklärt, es sei zweifelsfrei nachgewiesen, dass Nawalny mit einem Nervengift der russischen Nowitschok-Gruppe vergiftet wurde.

Merkels Rhetorik hat sich angesichts dieser Vorfälle merklich verändert: In ihrem Statement vom Mittwoch brachte sie, anders als bisher bei solchen Gelegenheiten üblich, keinen Hinweis darauf unter, dass ihre Hand trotz aller Konflikte ausgestreckt bleibe. Stellt sich nur die Frage: Welche konkreten Maßnahmen werden wohl auf die verschärfte Wortwahl folgen?

Am Donnerstag rückte die Gaspipeline Nord Stream 2 in den Fokus der Diskussion. Die fast fertiggestellte Ostsee-Röhre zwischen Russland und Deutschland ist schon seit Langem umstritten. Aus CDU, FDP, Grünen und sogar der eher russlandfreundlichen SPD werden jetzt Stimmen lauter, den Bau abzubrechen oder in Zukunft weniger Gas durchzuleiten als geplant. Die Bundesregierung lehnte solche Forderungen bisher stets ab. Die Pipeline sei ein privatwirtschaftliches Projekt und dürfe nicht unter politischen Entwicklungen leiden.

Quer durch die Parteien gab es am Donnerstag auch für dieses Mantra Unterstützung. „Das eine hat mit dem anderen aus unserer Sicht zunächst mal nichts zu tun“, so CSU-Chef Markus Söder. „Die Linke warnt nachdrücklich vor einer weiteren Zerstörung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen“, erklärte die Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen. Ihr Parteikollege Gregor Gysi bremst ebenfalls: „Jetzt Maßnahmen in den Raum zu stellen, ist schon deshalb falsch, weil niemand weiß, wer hinter dem Mordversuch steht. Verdächtigungen sollten keine Grundlage für eine rationale Politik sein“, sagte er der taz.

Aus Sicht der Bundesregierung ist in den vergangenen Monaten zu viel zusammengekommen

Damit klingt Gysi ganz ähnlich wie die EU, von der sich Merkel eigentlich gemeinsame Konsequenzen erhofft. Ein Sprecher der Kommission erklärte in Brüssel, Nawalny sei russischer Staatsbürger und der Fall habe sich in Russland ereignet, also müsse auch dort ermittelt werden. Die Europäische Union werde das Ergebnis der Untersuchung abwarten und erst danach über mögliche Konsequenzen sprechen. „Wenn wir das Verfahren sehen, werden wir eine Beurteilung vornehmen.“

Von Sanktionen war keine Rede. Auch Nord Stream kam nicht zur Sprache. Hinter den Kulissen prüfen die Europäer jedoch bereits mögliche Maßnahmen. Die Führung liege in diesem Fall beim deutschen Ratsvorsitz und damit wiederum bei Merkel, hieß es in Brüsseler EU-Kreisen. Entscheidungen könnten dann auf einem ohnehin geplanten EU-Sondergipfel Ende September in Brüssel fallen.

Ob es bis dahin die geforderten neuen Ermittlungserkenntnisse aus Russland gibt? Ein Sprecher des Kremls sagte am Donnerstag in Moskau, man würde gerne Untersuchungen aufnehmen, benötige dafür aber erst einmal Informationen der deutschen Behörden, zum Beispiel die Laborergebnisse der Bundeswehrspezialist*innen. Dass irgendjemand in Russland ein Interesse daran gehabt hätte, Nawalny zu vergiften – das glaube er aber nicht.