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Feier der Provinz

Das Kunstfest Weimar unter Pandemiebedingungen zeigt Freiluft-Uraufführungen von Sibylle Berg und Falk Richter und erzählt von thüringischen Kleinstdörfern

Von Dorothea Marcus

Nur ein wenig aufgeschreckt wird der Blick über die waldigen Hügel Thüringens durch das ferne Buchenwald-Mahnmal. Dann wandert er über den kräftig beforsteten Ettersberg, das Volkslied vom „großen Rauschen im grünen Wald“ zwingt Fröhlichkeit unter den Kopfhörer, den man sich am Tresen abholen konnte. Zum rustikal-romantischen Gartenlokal „August Frölich“ auf der Anhöhe in einer Schrebergartensiedlung sind es von der Weimarer Innenstadt 20 Minuten zu Fuß. An diesen idyllischen Ort kann man zum Einklang des Kunstfestes Weimar aus dem Stadtzentrum eine Viertelstunde hinwandern und Fettbemme (= Schmalzbrot) mit Bier bestellen, auf einen Hochsitz klettern und dem Hörstück von Mara May und Micha Kranixfeld über das „queere Leben auf dem Land“ lauschen.

Gibt es diese geheime Parallelwelt der Provinz wirklich? Ein queerer Mensch mag wohl kaum auf finsterere Vorurteile treffen als in winzigen thüringischen Dörfern. Gefunden haben die Autor*innen Menschen, die sich trotzdem von der Großstadt abgewandt haben, eine feministisch-lesbische Utopie im Hexenhäuschen leben, als Performancekünstler im Garten Vogelschwärme inszenieren, Dorfschänken gründen – oder auf geheimen Wald-„Sanctuaries“ als Feen und Trolle eine andere (erotische) Gemeinschaft als die der rauen Großstadt-Communitys entdecken. Frösche, Vögel, Trance-Beats, Feen-Geschichten und Telefoninterviews grundieren diese sehnsüchtige Exkursion zwischen Dokumentation und Fiktion, lassen den Geist wandern durch erträumte Mythen und verwirklichte Gegen-Utopien.

Auch im pittoresken Stadtzentrum von Weimar wird die ländliche Alternative zur Großstadt gefeiert: Die Ausstellung „Glück der Provinz“ in der ACC-Galerie – ein Kunstort, der aus dem Zusammenschluss von vier Wohnungen besteht, darunter eine, in der einst Goethe lebte – etwa zeigt Ausstellungsstücke aus winzigen thüringischen Dörfern, Madonnenfiguren, Stroh-Bären, Spritzdüsen der freiwilligen Feuerwehr, ein altes Ulbricht-Porträt in einem Stall in Gerstengrund (67 Einwohner, kein AfD-Wähler) – Ready Mades eines verschworenen (und verschwundenen?) Dorflebens, in dem vieles gemeinschaftlich gelöst wurde.

Aber dann sind natürlich doch noch eingefleischte Großstädter nach Weimar gekommen, mit Falk Richter, Ersan Mondtag, Benny Claessens und Sibylle Berg sogar Großstadtstars, auch wenn Letztere hier geboren ist. Zu Pandemiebedingungen hat Festivalleiter Rolf Hemke das Kunstfest Weimar großteils an der frischen Luft organisiert. Es gelten Corona-Sicherheitsbedingungen: Listen, Maskenpflicht, desinfizierte Kopfhörer, die Zuschauer sind unverbundene Paar-Inseln unter Sonnenschirmen. Spielort ist die „Alte Feuerwache“, ein knapp 4.000 Quadratmeter großes, selbstverwaltetes Quartiersprojekt. Auf die kahlen Häuserrückwände ist die Videoleinwand gespannt, „Sex“ steht in orange-roten Leuchtbirnen über Gipsstatuen von Goethe und Schiller. Einen melancholisch-düsteren Monolog hat Sibylle Berg dem Schauspieler Benny Claessens da auf den großen Leib geschrieben, inszeniert hat ihn Ersan Mondtag. Aber so richtig zu passen scheint es nicht.

Ein einsamer Mann, durch Corona zu Nichtstun und Sinnbefragung verdammt, denkt in „Paul oder Im Frühling ging die Erde unter“ an einen schäbigen Sommer der Jugend zurück – ein Einzelgänger, der schon früh an der Leere des Daseins verzweifelt und dann, an einem Badesee, doch einen Menschen trifft, der ihn versteht. Eigentlich eher Coming-of-Age-Kurzgeschichte denn ein Bühnentext. Claessens stürmt in rotem Bademantel und geschminkt wie ein trauriger Clown auf den Platz und improvisiert erst mal – über Corona, seine Mutter, seine Quarantäne, scherzt mit dem „Gott Goethe“ aus Gips über Text, Thea­ter, die Bühnensituation – die seltsam entfremdet wirkt, da man ihn nur über Kopfhörer hört. Lustig, aber auch lustlos und affektiert arbeitet er dann den Berg-Text herunter, bis die Autorin telefonisch höchstpersönlich die Autorisierung zum Ablesen gibt („Text ist völlig überbewertet“).

Frösche, Vögel, Trance-Beats, eine feministisch-lesbische Utopie im Hexenhäuschen

Eine echte Uraufführung möchte man sich anders ­vorstellen. Nur manchmal bricht dann durch Claessens groteske Showbären-Sentimentalität doch noch so etwas wie Bergs universelle Traurigkeit.

Falk Richter ist das Coronathema anders angegangen. Auch wenn man sich, nach erneuter Kopfhörer-Desinfektion, davon innerlich und äußerlich ziemlich bedient fühlt. Wird auf Theatern jetzt nichts anderes mehr erzählt werden? In „Five Deleted Messages“ versetzt sich Dimitrij Schaad mit berückender Panik in den Kopf eines Verschwörungstheoretikers, der Schauspieler K, der gerade den Faust spielen sollte, als die Pandemie der Einsamkeit ausbrach. Die Rolle fällt aus, die faustische Suche bleibt, doch Kafka und Goethe schützen zunächst nicht vor schlichten Erkenntnissen: „Alles hängt mit allem zusammen“. Schön ist, wie Schaad die existenzielle Verwirrung, die uns alle überfiel, herüberbringt. In der Leere des Lockdowns lässt er die Gedanken rasen und sie mal in Wut, mal in Reflexionen über Massentierhaltung und die drohende Apokalypse kippen: eine Art existenzielles Corona-Tagebuch, in dem viele Haltungen verständlich werden.

Durch die grandiosen Videos von Chris Kondek sieht man derweil, wie der nackte Schauspieler vor dem Kühlschrank Selbstgespräche führt, doppelbelichtet mit einer Welt in Flammen – Corona ist nur Symbol und Übungsfall für das, was kommen wird. Der Text endet mit unser aller Ratlosigkeit – denn das Gefühl, die Pandemie hätte etwas verändert, hat sich schon längst in Luft aufgelöst. Die „Humanpartikel“ (Falk Richter) rasen wieder ungebremst. Schön, wie man sie beim Kunstfest Weimar noch mal nachdenkend verlangsamt.

Kunstfest Weimar, bis 13. September, www.kunstfest-weimar.de

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