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Ketone sind nicht ohne

Mit einem neuartigen Nahrungsergänzungsmittel versuchen Tour-de-France-Spitzenteams wie Jumbo-Visma sich einen Leistungsvorteil von ein paar Prozent zu verschaffen

Aus Champagnole Tom Mustroph

Was tut ein Rennfahrer, wenn seine Kohlenhydratreserven aufgebraucht sind, alle Fette verbrannt, er aber immer noch Energie braucht? Er nimmt Ketone zu sich. Nicht um im Rennen schneller werden, sondern um gleich nach dem Rennen die Muskeln besser zu regenerieren – und dann am nächsten Tag, in der nächsten Woche, auch in der dritten Woche einer Tour de France das Leistungsvermögen, das er hat, noch vollumfänglich abzurufen. Er kann dann lächelnd auf die anderen sehen, deren Formkurve abflacht und die in den Bergen eher abreißen lassen müssen. Klingt wie eine Beschreibung dieser Tour de France? Nun, der Mann in Gelb, Primoz Roglic, gab auf taz-Nachfrage in der Pressekonferenz zu, aktuell Ketone zu sich zu nehmen. Er sagte allerdings auch: „Es ist schwierig, den Unterschied zu spüren.“ Kann man verstehen, der Mann ist schließlich nicht auch noch seine eigene Vergleichsgruppe.

Peter Hespel, belgischer Wissenschaftler an der von Zdenek Bakala, dem Finanzier des Rennstalls Deceuninck Quick Step, geförderten Bakala Academy, hat solche Vergleichsgruppen. Er gab Ketone an Mäuse und Menschen. „Bei den Mäusen ging es um Krebs, um den damit verbundenem Abbau von Muskulatur. Wir haben da gesehen, wir müssen die Erkenntnisse noch publizieren, dass die Mäuse, die täglich Ketone bekamen, eine größere physische Kapazität hatten. Sie rannten mehr und lebten auch länger als Mäuse ohne Ketone“, sagte Hespel dieser Tage der taz in einem Telefoninterview. Und weil das bei den Mäusen so gut klappte, kamen dann auch die Menschen dran. Hier nicht irgendwelche, sondern Amateurradsportler.

Radsportler als Versuchskaninchen? Dieser Sport ist für seine Rolle als Early Adopter pharmazeutischer Produkte geradezu berühmt. „Bei dem Test simulierten wir die Belastungen bei einer Tour de France. Über drei Wochen hatten diese Amateursportler täglich zwei Trainingseinheiten. Die, die nach jeder Trainingseinheit Ketone erhielten, konnten deutlich besser regenieren“, teilt Hespel die Ergebnisse dieser Studie mit. Sie waren auch zu höheren Leistungen in der Lage, um 5 bis 10 Prozent stieg die Leistung in Woche drei.

Das ist enorm. Und bevor im Kopf sich die Szenarien über Supersportler auf Ketone-Basis zu einem Narrativ verdichten, hakt Hespel ein: „Vorsicht! Keine voreiligen Schlüsse! Man kann von Amateursportlern nicht auf Elitesportler extrapolieren. Fünf Prozent mehr Leistung von Primoz Roglic würden fünf Minuten Vorsprung oder noch mehr von ihm bei der Tour de France bedeuten.“ Der Wissenschaftler, der nach eigenen Aussagen mit vielen Spitzensportlern in vielen Disziplinen zusammenarbeitet, merkt allerdings auch an: „Selbst 0,01 Prozent können im Leistungssport den Unterschied machen.“

„Die Mäuse, die täglich Ketone bekamen, hatten eine größere physische Kapazität“

Peter Hespel, Wissenschaftler

Hespel empfiehlt Tour-de-France-Profis folgende Anwendung: „Nach unseren Erkenntnissen sind 25 Gramm Ketone unmittelbar nach der Etappe sinnvoll. Dann ist der Erholungseffekt am größten.“ Er weist noch daraufhin, dass das die gleiche Menge Ketone sei, die die Leber eines Menschen, der eine Woche fastet, als alternative Energiequelle selbst produziert. Ketone sind also kein Wundermittel zum Schnellermachen, sondern ein Ersatzbrennstoff des Körpers bei Erschöpfung und Nahrungsmangel.

Begonnen wurde die Ketone-Forschung übrigens von der britischen Wissenschaftlerin Kieran Clarke im Rahmen eines Förderprogramms der U.S. Army. Clarke reagierte nicht auf taz-Anfrage. In einem Werbevideo der Firma HVMN, die Nahrungsergänzungsmittel auf Ketone-Basis kommerziell vertreibt, spricht sie aber recht offen über Early Adopter im Sport vor allem im Olympiajahr 2012. „Es war damals noch nicht kommerziell verfügbar. Aber wenn Leute zu mir nach Oxford kamen und danach gefragt haben, dann sagte ich ihnen, dass ich zwar nicht genau weiß, ob es wirkt, aber sie konnten es natürlich ausprobieren. Und das haben sie gemacht.“ 29 Goldmedaillen bei Olympia und den ersten Tour-de- France-Sieg eines Briten gab es damals. Hespel stieß 2012 durch einen Vortrag des damaligen Ernährunsgberaters von Team Sky überhaupt auf Ketone, erzählte er dieser Zeitung.

Als Doping sieht er Ketone nicht. „Das sind körpereigene Substanzen, vergleichbar mit Kreatin, Proteinen und Aminosäuren“, meinte er. Hespel warnt allerdings vor zahlreichen Fake-Produkten: „Dort ist dann die Konzentration geringer, sodass weniger als 25 Gramm Ketone zu sich genommen werden. Oder es werden Ketonesalze verwendet und nicht Ketoneester.“ Langzeitfolgen sind bisher nicht bekannt. Offiziell verfügbar ist der Stoff allerdings auch erst seit 2018. Wer in Sorge ist, sollte mal bei Team Sky, jetzt Ineos, nachfragen.

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