: Wie die Zeit vergeht
Von unserer Redaktion↓
Ein wunderbares Foto vom 30. Juli 2010: Da sitzen grüne Abgeordnete mit Linken auf dem Boden, um den Nordflügel des Bonatzbaus zu blockieren. Hinter sich eine grüne Wand aus Polizisten. Fehlt eigentlich nur noch Winfried Kretschmann.
Zehn Jahre ist es her, als man zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass der schwarze Beton dieser Stadt bröckeln könnte. Es waren doch so viele, die es satt hatten, von der immer gleichen Partei regiert zu werden, im immer neu gewobenen, aber gleichen Filz erstickt und vor Entscheidungen gestellt zu werden, zu denen es scheinbar keine Alternativen gab. Der Bahnhof war zu einem Symbol dafür geworden, zu einer Metapher für die kaltschnäuzige Cliquenwirtschaft, die Stuttgart 21 puschte. Um jeden Preis.
Auf diesem Nährboden ist Kontext gewachsen. Als Gegenstück zu einer Presse, die zu einem Teil des Systems geworden war, als Stimme für diejenigen, für die in diesem Spiel kein Platz vorgesehen war. Das konnte nur in Stuttgart funktionieren, schrieb einst der „Spiegel“, und könnte in diesem Fall womöglich recht haben. Im nächsten Jahr wird auch Kontext zehn.
Heute ist S 21, bundesweit betrachtet, keine Schlagzeile mehr. Ein müdes Lächeln auf der einen Seite, hilfloser Zorn auf der anderen, mehr ist kaum, wenn es neue Nachrichten gibt. Über mehr Milliarden, mehr Tunnel, mehr Dreck, mehr Chaos. Alles gewusst, alles tausendmal gesagt und nix geändert.
Journalistisch gesehen ist das kein Traum. Eher harte Arbeit. In der Kontext-Redaktion ist Oliver Stenzel für Stuttgart 21 zuständig. Seit vielen Jahren betreut er das Thema, und vielleicht muss man Historiker sein wie er, die langen Linien sehen, um nicht zu verzweifeln über die Sünden am Bau, den fehlenden Segen Gottes und die Pharisäer um sich herum. Allen heiligen Barbaras zum Trotz.
„Sommer des Protests“ lautet der Titel über seinem Artikel, der erzählt, wie 2010 Zehntausende auf die Straße gegangen sind und OB Schuster durch die Hintertür geflüchtet ist. „Auf Stuttgart 21 gepfiffen“ heißt die Überschrift über Walter Sittlers Text, in dem er seine und Volker Löschs Erfindung, den Schwabenstreich, nochmals lebendig werden lässt. Ein bisschen Nostalgie sei schon erlaubt, weil’s halt auch schön war.
Wie wär’s mit Fotos von damals?
Aber wer weiß, vielleicht schläft der Großprotest auch nur ein wenig und macht im Kleinen weiter, bei der Montagsdemo, der Mahnwache, den vielen immer noch lebendigen Initiativen? Zur allseitigen Ermunterung schlagen wir deshalb Folgendes vor: Wer heute noch leuchtende Augen kriegt respektive einen dicken Hals, wenn sie/er daran denkt, wie es damals war, möge sein Poesiealbum beziehungsweise sein Gedächtnis bemühen. Und dann her mit den besonderen Fotos aus der S-21-Protestzeit und den kleinen Geschichten und schicken an:
s21protestalbum@
kontextwochenzeitung.de.
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