Die Wahrheit: Am Leben bleiben

Eine musikalische Sozialisation in den siebziger Jahren musste nicht unbedingt zu Protestformen führen. Nicht jeder brauchte einen Iro auf dem Kopf.

Notärzte empfehlen, bei Herzstillstand die wiederbelebende Herzdruckmassage im Rhythmus eines Bee-Gees-Hits durchzuführen: „Stayin’ Alive“.

Im Jahr 1977, als dieser Song als erste Single aus dem Soundtrack von „Saturday Night Fever“ ausgekoppelt wurde, konnte ich damit nichts anfangen. Wie überhaupt mit dem ganzen Phänomen: Ich fand den Film blöd, Tanz-Fatzke Travolta albern und ich hasste Discomusik.

Ich war dreizehn und ein beinharter musikalischer Reaktionär. Ein Anachronist. Ein Old-School-Popularmusik-Stalinist. Ich stand auf Rock ’n’ Roll, Rhythm & Blues, Beat, Soul, Country-Rock: Chuck Berry, Muddy Waters, Beatles, The Who, Beach Boys, Buffalo Springfield. Angesichts meiner Verbohrtheit dann doch wieder eine überraschende Bandbreite. Aber alles uralt. Fünfziger- und Sechzigerjahrekram. Nichts in den Siebzigern Erfundenes erreichte mich. Selbst Punkrock nicht.

Ich vermute, es gab für mich schlicht keinen Grund, mit Punk gegen Genesis, Pink Floyd oder Yes zu rebellieren. Weil ich deren Musik sowieso ignorierte. Ich musste mich nicht gegen Hippie-Eltern oder 68er-Lehrer auflehnen: Meine Mutter war Jahrgang 1924, so alt wie die Omas meiner Freunde, und im Kollegium meiner Schule gab es noch Oberstudienräte mit Schmiss.

Im Musikunterricht sangen wir deutsche Volkslieder oder analysierten Bach. Ich musste also Ende der Siebzigerjahre ästhetisch und politisch noch die Kämpfe der Vorgängergeneration ausfechten. Konsequenterweise hörte ich auch deren Musik und ließ mir die Haare wachsen, statt auf meinem Kopf einen Iro zu errichten. Das war in sich schlüssig – und dennoch kam ich mir gelegentlich etwas modrig und aus der Zeit gefallen vor.

Mein guter Freund Matthias Günther erzählte mir kürzlich, er sei in jenen Tagen Sänger einer Punkband namens Gustl & die Reduzierten gewesen. Ihr größter Hit habe „Ich kotz in die Ecke und halt’s Maul“ geheißen. Das beeindruckte mich. Jemand, der Punk gehört und gemacht hatte, während Punk tatsächlich angesagt war! So viel Zeitgenossenschaft war mir nie vergönnt gewesen.

Fast jede Band, die mir gefiel, hatte sich schon vor Jahren aufgelöst. Oft war ich überrascht, dass ein Musiker, den ich verehrte, tatsächlich noch lebte. Davon war eigentlich nicht auszugehen. Aber obwohl meine Helden meist tot waren, stand ich nicht auf den Club-27-Käse. Den Rock-’n’-Roll-Heldentod-Mythos. „Live fast, die young“ – am besten mit 27 Jahren.

Ich hielt es mit John Lennon: „I don’t appreciate the worship of dead Sid Vicious or of dead James Dean. Making Sid Vicious a hero, Jim Morrison – it’s garbage to me. I worship the people who survive. I’ll take the living.“ Lennon verehrte die Überlebenden. Das sagte er im September 1980. Drei Monate, bevor er erschossen wurde.

Auch „Highway to Hell“ hat angeblich die richtige Frequenz für eine Herzmassage. Das ist vermutlich der berühmte Medizinerhumor.

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Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)

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kari

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