60. Namenstag der „Beatles“: Ein Sterni mit Johnny
Vor genau 60 Jahren spielten vier junge Musiker aus Liverpool in Hamburg erstmals als „The Beatles“. Zu diesem Anlass treffen wir einen alten Freund.
Johnnys Einkaufswagen war bis zum Rand mit Spumante und rotem Krimsekt vollgepackt. „Was los, Johnny?“, fragte ich: „Kein Toastbrot heut?“ „Ach Mensch“, erwiderte er nasal und mit dem leisen englischen Akzent: „Ich hab Party am Montag, Paule kommt auch schon heute Abend an.“ Geburtstag konnte es nicht sein, das war irgendwann im Oktober.
Ich hatte Johnny vor bald 20 Jahren das erste Mal vor der Kaufhalle in der Choriner Straße in Berlin-Prenzlauer Berg getroffen, als er einen Einkaufswagen anfluchte, weil seine Mark nicht freigegeben wurde. Da muss er schon um die 60 gewesen sein. Eine auffällige Gestalt, nicht zu hoch gewachsen zwar, aber Löwenmähne, weite Klamotten, bisschen Altershippie. Erst dachte ich, so ein Ex-Bürgerrechtler, Prenzlauer Berg eben, aber der Akzent verriet ihn. Zugereist.
Ich hatte ihm geholfen, die Münze aus dem Wagen zu bekommen, und seitdem hielten wir immer ein Schwätzchen, wenn wir uns trafen. Meistens am Lidl. Johnny war Anfang der 90er nach Berlin gekommen. Davor muss er eine ganze Weile durch die Welt gereist sein; Südamerika, Indien und so weiter. Wovon er lebte, wusste ich nicht so recht, er schien aber immer genug Geld zu haben.
An der Gegend hier gefiel ihm das Nachwendeflair, die netten Kneipen, die kauzigen Leute, da passte Johnny gut rein. Als ich ihn kennenlernte, war vieles davon schon nicht mehr da, und immer mehr war im Begriff zu verschwinden. Das missfiel ihm zwar, wie er mal erzählte, aber langsam fühlte er sich zu alt, um schon wieder ganz woanders neu anzufangen.
Irgendwann begegneten wir uns weiter unten auf der Lottumstraße, er lud mich auf ein Sterni ins Bandito ein. Als die irgendwann zumachten, nahm er mich einfach mit in seine Wohnung, wo wir weitertranken. Ich war ziemlich strack, muss irgendwann auf dem Sofa eingeschlafen sein. Es war bestimmt schon mittags, als ich vom Klavier geweckt wurde. Johnny spielte „Imagine“ im Nebenzimmer. Die nasale Stimme: „You may say I’m a dreamer, / but I’m not the only one“. Ich musste weinen.
„Willst du mich verarschen? Alter, ich bin tot“
Als ich ihm später sagte, was für ein berührender Moment das gewesen war, als er das Lied nur für mich gesungen hatte, meinte er ganz ernsthaft: „Mann, ich hab das doch immer nur für dich gespielt, wie all die anderen Songs auch. Die haben alle nur darauf gewartet, von dir gehört zu werden.“ Wow.
Wir sahen uns dann öfter. Wenn er Lust hatte, nahm Johnny die Gitarre oder setzte sich ans Klavier und spielte für mich. Oder er erzählte von früher, von Liverpool, von Hamburg, von den Jungs, von Yoko. Und davon, wie alles endete. „Und du willst wirklich nie wieder auftreten?“, fragte ich ihn mal. „Willst du mich verarschen? Alter, ich bin tot.“
Und jetzt half ich dem alten Mann, in der glühenden Hitze den Sekt in die dritte Etage hochzutragen. „Was feiert ihr eigentlich?“, wollte ich wissen? „Unseren 60. Namenstag. Wir wollten eigentlich nach Hamburg. Aber wozu? Die Reeperbahn ist auch nur noch scheiße. Die Kneipe, wo wir das erste Mal aufgetreten sind, gab es außerdem schon zwei Monate später nicht mehr. Lärmbelästigung“, grinste er, „das waren wir.“
„Hast du dein Auto inzwischen reparieren lassen“, wollte Johnny dann noch wissen. Hatte ich, und so ist es gekommen, dass ich am Samstagabend zwei ältere, leicht angetrunkenen Herren von Tegel nach Prenzlauer Berg kutschierte. Johnnys Kumpel, Paule, war viel netter, als ich es mir nach Johnnys Erzählungen vorgestellt hatte, und er sprach ebenfalls Deutsch, wenn auch ungeübter.
Die beiden hatten noch am Gate den ersten Krimsekt geöffnet und machten die ganze Fahrt über blöde Witze. „Alter, mach mal Berliner Rundfunk an!“, sagte Johnny, und dann zu Paule: „Fünf Euro.“ Der schlug ein. Wir waren schon fast durch den Wedding durch, als „Yesterday“ lief. Johnny schob grunzend den Schein rüber.
Ich lud die beiden in der Choriner ab, trug noch Paules Rollkoffer hoch und verabschiedete mich. Einschlafen konnte ich nicht so gut, es war immer noch ziemlich heiß. Irgendwann später schien es mir, als hörte ich vom Dach her Musik rüberwehen. Eventuell „Get Back“? Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.
Vielleicht hab ich das auch nur geträumt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!