: Verbrechen im Kosovokrieg: Thaçi angeklagt
Der Präsident soll für 100 Morde verantwortlich sein. Umstrittener Deal mit Serbien muss warten
Von Erich Rathfelder, Sarajevo
Als am Mittwoch die Nachricht kam, dass der jetzige Präsident und langjährige Ministerpräsident des Kosovo, Hashim Thaçi, und neun seiner ehemaligen Mitstreiter, etwa der frühere Parlamentspräsident Kadri Veseli, vor dem Sondergericht für das Kosovo wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden, brach in Prishtina Hektik aus.
Thaçi, der zu dem Zeitpunkt in Deutschland weilte, sagte seinen geplanten Besuch in Washington ab und kehrte am Donnerstag nach dem Kosovo zurück. Statt seiner sollte zu diesem wichtigen Treffen mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić stattdessen Premierminister Avdullah Hoti fahren. Doch auch der sagte inzwischen ab. Denn die Anklage erschüttert das Machtgefüge des kleinen, vor allem von Albanern bewohnten Balkanstaates.
Das Gericht, das schon 2015 seine Tätigkeit aufgenommen hat, setzt sich aus kosovarischen und internationalen Richtern zusammen und tagt aus Sicherheitsgründen in Den Haag. Es soll sich mit Verbrechen im Rahmen der ehemaligen Führungsspitze der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) befassen. Bisher hatte das Gericht wStillschweigen über mögliche Anklagen bewahrt. Wegen seiner scheinbaren Untätigkeit wurde es in der Öffentlichkeit schon totgesagt, jetzt zeigt es aber Krallen.
Thaçi und die anderen Angeklagten seien für fast 100 Morde verantwortlich, heißt es in der Anklageschrift. Außerdem würden ihnen Kriegsverbrechen, Folter, Verfolgung und gewaltsames Verschwindenlassen von missliebigen Personen vorgeworfen. Und last, not least: Die Angeklagten sollen in den vergangenen Jahren die Tätigkeit des Gerichts behindert haben.
Bisher liegt nur die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vor. Jetzt muss ein Richter die Anklage begutachten und dem Gericht eine Empfehlung zur Eröffnung des Verfahrens geben. Das kann ein halbes Jahr dauern. Doch niemand zweifelt daran, dass die Anklage ernsthafte innenpolitische Folgen haben wird.
Anlass für die Gründung des Gerichts 2015 gaben vor allem die Recherchen des Schweizer Juristen Dick Marty, der als Sonderberichterstatter des Europarats 2010 Vorwürfe wegen Organhandels gegen die UÇK erhoben hatte. In einem Exklusivgespräch mit dem kosovarischen TV-Sender RTK erklärte Marty vor Jahren jedoch, dass in seinem Bericht „nirgends von einer direkten Verwicklung Thaçis in den Organhandel die Rede“ sei. An dem Verbrechen seien aber Personen beteiligt gewesen, die zum Kreis Thaçis gehörten.
Die Organe sollen serbischen und albanischen Gefangenen auf Stützpunkten der Organisation in Nordalbanien entnommen und über den Flughafen Tirana weitergeschickt worden sein. Aufgenommen in die Anklageschrift sind auch Verbrechen an Serben, Roma und Vertretern der Minderheit der Ashkali sowie Oppositionellen. Außerdem sind Morde an Vertretern der mit der UÇK konkurrierenden Gruppen des albanischen Widerstands wie zum Beispiel der Militärorganisation FARK während und nach dem Krieg 1998/99 bekannt geworden. Inwieweit sie in der Anklageschrift enthalten sind, ist noch unklar.
Die Anklage kommt für Thaçi zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Denn am 27. Juni sollten er und der serbische Präsident Vučić im Weißen Haus unter Beteiligung von US-Präsident Donald Trump ein Friedensabkommen zwischen Serbien und dem Kosovo auf den Weg bringen.
Verhandler der EU waren ausgeschlossen worden. Nach bisherigen Informationen sollte ein Gebietsaustausch zwischen dem Kosovo und Serbien diskutiert und möglicherweise beschlossen werden. Diesen von den USA unterstützten „Deal“ lehnen sowohl die EU als auch die Mehrheit der Kosovobevölkerung, viele Serben und die orthodoxe Kirche strikt ab. Politische Analytiker gehen davon aus, dass Russland den Deal mit Blick auf die langfristige Anerkennung der Annexion der Krim unterstützt.
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