: Natürlich kann gestritten werden
Ein Blick in Leser:innenbriefe, Kommentare und den Hausverteiler zeigt uns, dass wir uns einig sein können – mindestens bei der Lust zum Streit
Auf den Monitoren der taz leuchten täglich haufenweise Leser:innenbriefe auf: Lobpreisungen für sprachliche Blüten, gut gesetzte Spitzen – und streitlustige Wutbriefe, bei denen die blutigen Fingerkuppen zwischen den Zeilen förmlich hindurchscheinen.
Oft geht es um Inhaltliches, doch richtig emotional wird es erst beim Sprachgefühl: grammatische Freveleien, imperialistische Anglizismen, herablassender Fachjargon, misshandelte Eigennamen, sensationistische Eskapaden, blind kopierte PR-Euphemismen, grobe Vulgaritäten, Frivoles, Verletzendes.
Bei wem noch nicht angekommen ist, dass Sprache und Identität zusammenhängende politische Kategorien sind, die:der verlöre alle Zweifel beim Anblick eines Leser:innenbriefs über ein groß geschriebenes Verb in der Dachzeile. Und erst die Schmerzensschreie, wenn ebenmäßig zeichengleiche deutsche Sätze mit Gendersternchen und Doppelpunkten zerrissen werden. Wer da mitleidet, ist im innersten Kern berührt. Schlimm, wenn die Betroffenheit begründet ist.
Desinteresse und Verachtung dem eigenen Handwerkszeug gegenüber? Klar, Fehler passieren einige. Selbstverständlich auch, dass wir einen anderen Maßstab an unsere Texte anlegen als an die Alltags-E-Mail. Sprachliche Häresien landen trotzdem im Blatt und damit unter den Augen einer engagierten Leser:innenschaft, deren Hinweise Tag für Tag im Hausverteiler landen.
Zu schnell und zu langsam
Die Tretmühle des Sprachwandels, ewiges Getriebe gesellschaftlicher Umwälzungen, läuft für manche zu schnell und für einige zu langsam. Während sich Redakteur:innen und Autor:innen noch bemühen, Rechtschreibreformen und an den Rändern angetrocknete linguistische Erkenntnisse der letzten 30 Jahre bedarfsgerecht zu verteilen, ertönt von der linksintellektuellen (Twitter-)Elite genervtes Aufstöhnen über längst ausgefochtenen Debatten. Avantgarde, wer zuerst über die Lahmheit der anderen jammert.
Doch wer denkt, Lösungen ohne Abstriche parat zu haben, denkt oft zu kurz. Theorien, Wörterbücher, Wikis und Ratgeber haben ihre Grenzen. Deswegen werden in der taz zwei Freiheiten besonders hochgehalten: Die der Autor:innen, zu schreiben, wie sie wollen. Und die aller anderen, ihnen zu sagen, was sie davon halten.
Es wird gestritten. Mit gegenseitigem Respekt für verschiedene Sprachcodes und Intertextualitäten. Miteinander, gegeneinander, andauernd. Auch mit Menschen, die in manchen Augen nur Beleidigungen verdienen. Wir lesen entrüstete Kommentare, streiten in Redaktionskonferenzen, in Fluren und per Mail, nie zimperlich, oft ohne Rücksicht auf Verluste. Der Streit hilft dabei, Fehler einsehen und Ambiguitäten aushalten zu lernen. Und er ist Sportgymnastik auf dem Minenfeld für jene, die sich weigern, nach dem Trampelpfad zu fragen.
Häufig verschwimmt im Austausch die Eindeutigkeit: Ein hastig gelöschter Artikel verschiebt ein redaktionelles Machtverhältnis in die falsche Richtung. Ein eingedeutschter Anglizismus verkehrt die intendierte Wirkung ins Gegenteil. Ein glattgebügeltes Zitat nimmt den Zitierten ihre Subjektivität. Eine vorsichtig formulierte Alternative schiebt nebenbei die migrantische Lebenswelt aus der Medienöffentlichkeit.
Eine winzige Anpassung zaubert absichtslos eine klassistische Bügelfalte in den Text. Ein ausgetauschter Titel lässt ungewollte Narrative anklingen. Eine Änderung radiert Nuancen aus, leugnet Fehler oder lässt Autor:innen nachträglich in anderem Licht erscheinen, als sie es eigentlich verdienten. Raoul Spada
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