: Sammelbildchen für alle Fälle
Kunstvoll im Kleinformat: Die Ausstellung „stick.t.me“ in der panke.gallery in Wedding folgt ganz real der Faszination von Stickern im digitalen Raum
Von Tilman Baumgärtel
Kinder und die, die im Herzen Kind geblieben sind, verstehen ihren Reiz sofort. Wer selbst Kinder hat, muss ihre Anziehungskraft konstatieren, selbst wenn man ihre Faszination nicht nachvollziehen kann: Sticker. Firmen wie Panini haben aus dem Geschäftsmodell „Taschengeld für Klebebildchen“ hochprofitable Unternehmen geschaffen, mit Stickern aus „Star Wars“ oder von der Fußballweltmeisterschaft. Irgendwie scheint es in unserer DNA zu sein, Bildserien zu erwerben und in Sammelalben oder Plastikhefter einzukleben, diese zu horten, aufzuheben oder zu tauschen. So ähnlich funktioniert letztlich auch der Kunstmarkt.
Eine kleine, aber überaus sehenswerte Ausstellung in der panke.gallery in Wedding begibt sich nun auf die Spuren dieser Faszination, wenn auch im digitalen Raum. Denn inzwischen gibt es Sticker auch bei Apps wie TikTok, WhatsApp, Instagram oder Telegram. Anders als bei den Klebebildchen aus dem Schulranzen sind diese sogar umsonst. Und in dieser Hinsicht trifft sich diese genuine Netzwerk-Bildkultur mit Konzepten der Kunstproduktion, die seit den 60er Jahren im Raum stehen; einer Kunst, in der es nicht mehr um Objekte, sondern um Erfahrungen geht, nicht mehr um Besitz, sondern um Teilhabe, wie bei Performances, Mail Art oder Netzkunst. Hier gibt es praktisch nichts mehr zu verkaufen, der Wert des Werks ergibt sich aus seiner Verbreitung und seiner Rezeption.
In den sozialen Medien wurde gelegentlich versucht, mit dem digitalen Äquivalent von Sammelbildchen und Aufklebern Geld zu verdienen. Facebook wollte in seinen frühen Jahren digitale Icons verkaufen, die von der Stardesignerin Susan Kare – Schöpferin der allseits bekannten Icons des Apple Macintosh – entworfen worden waren. Für einen Dollar pro Bildchen konnte man aus einer Kollektion Rastergrafikbildchen von Herzchen, Tortenstücken und Eheringen erwerben, die man zu besonderen Gelegenheiten an seine Lieben versenden konnte. Auch für TikTok gibt es solche Angebote. Aber die Geschenkökonomie des Netzes hat immer wieder verhindert, dass man mit solchen Ideen wirklich Einnahmen generieren konnte. Warum für affektive Äußerungen bezahlen, wenn man sie auch mit Emojis und GIF-Animationen ausdrücken kann? Oder eben mit Gratis-Stickern.
Bei dem Messenger Telegram – einer einigermaßen dubiosen Plattform, die zum Sammelbecken der Attila Hildmanns dieser Welt geworden ist – gibt es inzwischen mehr als 20.000 Sticker, von tanzendem Obst und pulsierenden Herzen bis hin zu den immer noch beliebten Katzenmotiven. Seit die Nutzer eigene Sticker gestalten, eröffnete sich auch ein künstlerischer Freiraum, in den sich die Arbeiten in der „Stick.t.me“-Schau eingenistet haben wie ein Parasit in den Wirt. Im Rahmen eines virtuellen Artist-in-Residence-Programms der panke.gallery schufen neunzehn Künstler Sticker für Telegram, die man nun tatsächlich in dem Messenger einsetzen kann.
Viele der Stickersets beziehen sich direkt auf visuelle Internetkultur. Carla Gannis hat aus Emojis elaborierte Collagen geschaffen, unter anderem ein Version von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“, den sie für ihren Beitrag wieder in seine Einzelteile zerlegt hat. Joan Hermskerk von dem Netzkunstduo jodi.org hat die Icons aus der Bildschirmoberfläche des Mac Classics dekonstruiert. Lorna Mills hat Standbilder aus ihren grenzwertigen GIF-Collagen für die Ausstellung produziert.
Auch die verschiedenen „Throbber“, die das tschechische Künstlerduo & (Barbora Trnková und Tomáš Javůrek) gestaltet haben und die mit verschiedenem Tempo anzeigen, dass der Computer am Arbeiten ist, sind eine direkte Referenz auf die heutige Internetikonografie, die auf die Bedürfnisse von ungeduldigen Betrachtern mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne hin gestaltet ist. Außerdem haben sie einen Bot programmiert, der aus Porträtbildern immer neue Collagen montiert, die automatisch per Telegram verbreitet werden.
Aber es gibt auch Versuche, einen Gegenentwurf zu der durchgestylten Ästhetik der Telegram-Sticker zu schaffen: Nadja Buttendorf hat zum Beispiel aus Schnappschüssen von sich selbst ein ganzes Set mit Reaktions-Stickern zusammengestellt; wer in Zukunft bei Telegram seiner Belustigung oder seinem Ärger Ausdruck verleihen will, kann es mit dem Gesicht der Künstlerin tun. Auch die traurigen, mit wenigen Bleistiftstrichen hingekrakelten Gesichter von Niko Princen, die übliche Emoji-Mienen aufnehmen, geben einem gängigen digitalen Sujet einen neuen Dreh. Verblüffend schlicht und effektiv zugleich auch die Minicollagen, die die New Yorker Designerin Emma Damiani mit Aufklebern aus dem Schreibwarengeschäft zusammenmontiert hat.
Wieder andere Künstler nutzen die Gelegenheit, um Motive aus ihrer Kunst in Umlauf zu bringen: Der spanische Künstler Nieves de la Fuente hat einige seiner digitalen Bilder von „Lonely Machines“, die in der Mitte von Nirgendwo herumstehen, zu Stickern umgearbeitet. Igor Štromajer recycelt Elemente von seiner gelöschten Website intima.org.
Es ist eine Freude zu sehen, wie sich vollkommen unterschiedliche Künstler auf die Vorgabe der Ausstellung eingelassen haben und was für verschiedenartige Arbeiten dabei herausgekommen sind. So geht Kunst, wenn sie nicht nach dem Kunstmarkt schielt.
Bleibt die Frage, warum man sich Sticker, die in den sozialen Medien kursieren, eigentlich in einer Ausstellung in einer Galerie ansehen soll. Das Zentrum für Netzkunst, das die Ausstellung kuratiert hat, hat sich eine schlichte, aber effektive Art einfallen lassen, die Motive auf Foliendrucken im physischen Raum zu präsentieren. Doch vor allem gibt es nur hier den liebevoll gestalteten Katalog, der aus einem mit Folie beschichten Heft und einem Stapel von Stickerbögen besteht, die man – yey! – wie die Panini-Sticker von einst abziehen, aufkleben, umkleben und tauschen kann. QR-Codes helfen bei der Platzierung – ein gelungene Verbindung von virtueller und realer Kultur.
stick.t.me: panke.gallery, Gerichtstr. 23, Hof 5, Mi.–Sa. 15–19 Uhr, bis 4. Juli. Die Sticker finden sich auf dem Telegram-Kanal von Zentrum für Netzkunst oder unter netart.berlin/telegram-residency/.
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