: Aus der Zeit gefallen am Drei-Finger-Felsen
Hari Kunzru lässt rund um einen mythischen Ort ein Panoptikum schräger Figuren auferstehen. Im Zentrum von „Götter ohne Menschen“ steht ein verschwundener Junge
Von Klaus Bittermann
Wenn es um überirdische Phänomene geht, landet man schnell bei Esoterikern, Schamanen, Wahrsagern und merkwürdigen Gestalten, die auf die Komplexität einer außer Kontrolle geratenden modernen Welt mit Globuli, Hypnose und der Hoffnung auf Außerirdische reagieren und sich ihren eigenen Reim machen, der manchmal auch nicht verrückter klingt als eine rationale Erklärung für ein Phänomen, das niemand versteht.
Hari Kunzru hat sich mit seinem neuen Buch „Götter ohne Menschen“ in eine Gegend begeben, in der schon seit Jahrhunderten merkwürdige Dinge vor sich gehen, irgendwo in eine Wüste, aus der eine bizarre Felsformation herausragt, die aussieht wie drei in den Himmel wachsende Finger, einem heiligen Ort für Indianer, einem Anziehungspunkt für Freaks, die Kontakt zu Außerirdischen suchen, für Abenteurer, Touristen, Militär, Verrückte und Spinner, aber auch für Leute, die auf der Flucht rein zufällig dort gelandet sind. Kunzru entwirft mit großer Könnerschaft und Eleganz verschiedene Handlungsstränge, die sich berühren, überlappen, schneiden, und es gelingt ihm das Kunststück, durch die Kraft seiner suggestiven Erzählweise den Leser nicht den Überblick über das zahlreiche Handlungspersonal verlieren zu lassen.
Im geheimen Zentrum der Geschichte steht das Verschwinden des kleinen Jungen Raj, der an einer starken Ausformung des Asperger-Syndroms leidet, weshalb es unerklärlich ist, weshalb er nach längerer Zeit völlig unbeschadet an einem weit entfernten Ort, einem geheimen militärischen Stützpunkt, wieder auftaucht und es ihm danach offenbar besser geht als zuvor.
„Nur eine Generation vom Dorfleben entfernt, den Lehmhütten, dem selbstgebrannten Schnaps und den Ehrenmorden“, ist aus dem Vater, der einer sehr traditionellen indischen Familie entstammt, ein erfolgreicher Statistiker geworden, der mit einem Supercomputer Börsenschwankungen berechnen und ausnutzen kann.
Hari Kunzru: „Götter ohne Menschen“. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Liebeskind, München 2020, 416 Seiten, 24 Euro
Die Beziehung zur jüdischen Mutter wird durch das autistische Kind Raj auf eine harte Probe gestellt, und allein die aufbrechenden Konflikte des schnell in die Upper Class aufsteigenden Paars beschreibt Kunzru in seiner ganzen absurden, katastrophalen Lächerlichkeit. Um den kurz bevorstehenden Nervenzusammenbruch zu vermeiden, fahren sie in Urlaub, werden aber wegen des kleinen Schreimonsters aus allen Luxushotels hinauskomplimentiert und landen schließlich in einem heruntergekommenen Motel in der Wüste, wo der Streit erst richtig eskaliert, die Frau abhaut, sich betrinkt, vergewaltigt wird, bis schließlich am Drei-Finger-Felsen das Kind sich in Nichts auflöst.
Das Ehepaar durchläuft jetzt erst richtig die Hölle, nicht nur wegen des Verlusts des Kindes und der Frage der Schuld, mit der sich die beiden selbst und gegenseitig quälen, sondern weil sie sich ins Fernsehen begeben, um an die Entführer zu appellieren und mögliche Zeugen ausfindig zu machen. Kunzru seziert nun die psychologische Falle, in die beide bewusstlos hineinstolpern, denn das Mitleid der Öffentlichkeit verwandelt sich bald in Hass, der sich im Netz wie ein Virus rasend schnell verbreitet. Die Situation wird immer grotesker, und Kunzru treibt seine Protagonisten immer mehr in den Wahnsinn, vor allem den Vater, den das Unerklärliche des Verschwindens wie des Wiederauftauchens seines Sohnes keine Ruhe lässt.
Allein dieser virtuos erzählte Handlungsstrang hätte für ein grandioses Buch ausgereicht, aber Kunzru kommt es darauf an, ein Klima zu erzeugen, eine Atmosphäre zu erschaffen, die so drückend ist wie die Hitze, so geheimnisvoll wie der grün leuchtende Junge, der von einem Indianer begleitet wie eine Fata Morgana in die Wüste geht, irgendwie real, aber unerreichbar, und den 88 Jahre vorher ein Regierungsbeauftragter sieht, der die Sprache der Ureinwohner erforschen soll, und der mit seiner Meldung des Vorfalls beim Sheriff die Verfolgung und Ermordung eines Indianers in Gang setzt, der ihm seine Frau ausgespannt hat.
Oder die Freaks, die am Drei-Finger-Felsen ihr Lager aufschlagen und mit merkwürdigen Antennen und Reflektoren sich als Außenposten eines intergalaktischen Kommandos sehen, lässig herumlungern, Haschisch rauchen und die freie Liebe pflegen. Oder der zugedröhnte und in seiner tumben Ignoranz perfekt in Szene gesetzte Rockstar aus England, der in Amerika eigentlich eine Platte aufnehmen soll, aber nicht die geringste Idee hat und auf der Flucht vor den ihm auf die Nerven gehenden Bandmitgliedern und seinem Manager im gleichen Motel strandet wie Raj, der zum ihm ein spontanes Zutrauen fasst, das seinem Vater ein Rätsel ist.
Kunzru lässt ein Panoptikum von schrägen Figuren auferstehen, die vom Schicksal, vom Leben und manchmal brutalen Zufällen hin und her geschleudert werden, Getriebene ihrer Bedürfnisse, die aus dem Strudel des Lebens nicht mehr herausfinden. Nur dieser Drei-Finger-Felsen steht da wie ein Monument in der Wüste und scheint Verzweiflung, Sehnsucht, Hoffnung magisch anzuziehen, durch seine bizarre Schönheit und sein Spiel mit der Sonne; er scheint die Fantasie und die Vorstellungswelt der Menschen zu befeuern.
Hari Kunzru hat Mark Fishers Überlegungen zur Hauntologie viel zu verdanken, wie er kurz nach Fishers Suizid 2017 twitterte. Dabei geht es um den Zustand, „in dem das Leben weitergeht, aber die Zeit irgendwie zum Stillstand gekommen ist“. Das Unbegreifliche und das Gespenstische sind dabei das Motiv und der Antrieb, die dafür sorgen, dass das Leben überhaupt weitergeht, aber das Handeln der Figuren ist auf merkwürdige Weise vergeblich und aus der Zeit gefallen. Kunzrus Kunst ist es, dass man nicht aufhören mag, die lapidar erzählten Schicksale der Figuren weiter zu verfolgen, auch wenn sie nicht besonders helle sind.
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