: Geschichte, die nie war
Die polnisch-syrische Produktdesignerin Anna Banout entwirft im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe eine arabisch-futuristische Utopie: „Syria 2087“
Von Falk Schreiber
Am 22. Juli 1987 flog der syrische Pilot Muhammed Achmed Faris mit einer Sojus-Kapsel zur sowjetischen Raumstation Mir, als zweiter Araber und zweiter Muslim im All. Für Syrien und die arabische Welt war das ein Meilenstein, der die Region auf Augenhöhe mit dem wissenschaftlichen Fortschritt brachte. Einem Fortschritt, der freilich durch den syrischen Bürgerkrieg ab 2011 radikal abgebrochen wurde. Die syrische Zivilgesellschaft ist heute pulverisiert, jegliche Entwicklung auf Null gesetzt.
Die polnisch-syrische Produktdesignerin Anna Banout denkt die Fortschrittsbegeisterung der 1980er weiter, zu einer Raumfahrt-Utopie namens „Syria 2087“, in der die Gesellschaft ohne Krieg, Massenmord und Vertreibungen ihre Zukunft entwerfen kann. Die sieht dann so aus: 100 Jahre nach Faris’ Raumflug, ist der Mars syrisch besiedelt. Was nicht zuletzt deswegen ein naheliegender Gedanke ist, weil auf dem erdähnlichen Planeten tatsächlich eine Region „Syria Planum“ existiert. Was aber haben die Siedler von der Erde mitgenommen? Was aus der syrischen Kultur ist bewahrenswert? Welche Objekte machen überhaupt eine Kultur aus, die sich durch Migration von der einen in die andere Region transferieren lässt?
Die Wahlberlinerin Banout, Jahrgang 1994, arbeitet schon seit Jahren an „Syria 2087“, die Präsentation im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ist die bis dato aufwendigste des Projekts. Gezeigt werden syrisch-arabische Artefakte, gemeinsam mit von Banout selbst gefertigten Kunstobjekten sowie die utopische Narration vorantreibende Installationen. Das sind dann beispielsweise Vasen aus kunstharzgebundenem Basalt, fremdartig wirkende Objekte, die gleichzeitig zerbrechlich und organisch anmuten und auf die ebenfalls aus Basalt bestehende archäologische Stätte Rujm Al-Hiri im Golan verweisen. Zu was diese bronzezeitlichen Steinkreise tatsächlich dienten, ist heute in Vergessenheit geraten. Eine Hypothese ist, dass das „arabische Stonehenge“ zur Beobachtung der Himmelskörper gedacht war – was die Brücke schlägt zum Weltraum-Thema der Schau.
Andere Arbeiten haben stärkeren Museumscharakter: Objekte, die klassisch unter Glaskuppeln präsentiert werden und dabei syrische Alltagskultur repräsentieren. Banout zeigt eine Schale, die zum Verscheuchen von Ängsten dient, und die mit Mustern verziert ist, die den Kommunikationsmustern der Voyager-Sonde entlehnt sind. Eine Sanduhr, die auf die unausweichlich verrinnende Zeit verweist und durch ihre Verzierungen auf die von Dünen und Kratern geprägte Topographie des Mars. Das Modell eines „Bienenkorbhauses“, wie sie in der Region um Aleppo stehen, wie sie allerdings auch 1984 von Nader Kahlili als zeitgenössische Migrationsarchitektur geplant wurden. Nach und nach entsteht so eine enge Verschränkung zwischen Weltraummotivik und syrischer Lebensrealität.
„Syria 2087“ wird in einem Gang der Sammlung islamische Kunst gezeigt. Die Abteilung wurde 2015 neu konzipiert, wirkt durch ihre Setzung als „Anderes“ allerdings immer noch nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Banouts Projekt ist ein erster Versuch, sie mittels Kunst neu zu fassen. Weil ihre Erzählung in sich stimmig ist, sieht man der Arbeit ihre leichten argumentativen Schlenker vom syrischen Bürgerkrieg über (post-)migrantische Konzepte bis in die Science-Fiction nach. In ihrer Bezugnahme auf den Raumflug von Muhammed Achmed Faris übernimmt Banout Strukturen des Afrofuturismus und wendet diese in einer arabischen Volte auf Syrien an. Und beim Afrofuturismus bringt es ja auch nichts zu fragen, ob jedes Detail passt, es geht um die stimmige Gesamterzählung. Hier: wie eine große Vergangenheit im Bürgerkrieg zerbricht – und was sich von dieser Vergangenheit in der Migrationsgesellschaft weitertragen lässt. Dass die Schau auch ästhetisch einiges hermacht, mit ihren liebevoll präsentierten „Fossilien aus der Zukunft“, mit beeindruckend designten Alltagsgegenständen, nicht zuletzt mit einander durchdringenden Fotos von Marslandschaften und Aufnahmen der syrischen Wüste, spricht für sich.
Nach seinem Flug zur Mir wurde Faris mit dem Orden „Held der Sowjetunion“ und dem Leninorden ausgezeichnet. Zurück in Syrien war er Oberst der Luftstreitkräften und Hochschuldozent. 2012 engagierte er sich im Bürgerkrieg für die oppositionelle Freie Syrische Armee und musste daraufhin seine Heimat verlassen, heute lebt er in Istanbul: eine Geschichte der Vertreibung, eine Geschichte der Migration, die untrennbar verbunden ist mit der Geschichte des Nahen Ostens. Und ebenso mit der Geschichte von der Eroberung des Weltraums: Faris’ heute in der Bundesrepublik lebender Sohn trägt den Namen Mir, „Freundschaft“.
„Syria 2087“: bis 25. 4. 21, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
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