Musikalisches Erbe von Florian Schneider: Weißkittel im Kling-Klang-Labor

Das Echo auf den Tod von Kraftwerk-Superhirn Florian Schneider war immens. Er verkörperte gleichsam den reinen Experimentiergeist der Band.

Florian Schneider und Ralf Hütter vor einer Wand aus Rohren. Beide Männer tragen Scheitel.

Sie sind die Roboter: Florian Schneider und Ralf Hütter in den frühen 1970ern Foto: Foto: Caroline Coon/Camera Press/Laif

Selbst das Ende wird noch zum Teil der Kraftwerk’schen Mythenmaschine: Erst nach tagelanger Gerüchteküche wurde vergangenen Mittwoch der Tod von Florian Schneider bestätigt. Das internationale Echo auf sein Ableben war immens: Von Hamburg und Berlin bis München, von New York und Detroit bis London und Manchester huldigte man dem Mitbegründer der „industriellen Volksmusik“, wie Kraftwerk ihre elektrifizierte Krautrockabspaltung nannten.

Für die britische ­Tageszeitung Guardian war die Nachricht front-page news, auf der Website des Londoner Labels Mute erinnert sich Label-Gründer Daniel Miller seines Freundes, und in den sozialen Medien verbeugte sich Mike Banks im Namen von Underground Resistance samt der Detroiter Techno-Gemeinde. Konsens über die bahnbrechende Bedeutung von Schneiders Lebenswerk herrschte allenthalben selbst in den deutschen Feuilletons, die seinen Nachrufen weit mehr Platz einräumten als den Aktivitäten von Kraftwerk während der letzten zehn Jahre.

Zu den Mythen, die sich um die Gruppe aus Düsseldorf ranken, gehört die Überzeugung, dass Florian Schneider eigentlich die wahre Verkörperung von Kraftwerk sei, während Ralf Hütter als Nachlassverwalter einer längst überflüssigen Nostalgieshow gilt. Das stimmt so zwar nur bedingt, erklärt aber sicherlich die Reverenz, mit der man Schneider in den Nachrufen begegnete. Er verkörperte gleichsam den reinen Experimentiergeist von Kraftwerk, die in der zweiten Hälfte der 1970er der gesamten Popmusik eine neue, nämlich elektronische Richtung vorgaben.

Tüftler, Bastler, Techniker

Schneiders Part war der des Tüftlers, Bastlers, Technikers – quasi der Mann im weißen Kittel im Kling-Klang-Labor von Kraftwerk. Verantwortlich war er vor allem für die Sprachsynthese, die heute zum Allgemeingut des Pop geworden ist, jedoch damals nichts Geringeres als eine Revolution war. Das ambitionierteste Album Kraftwerks, „Radio-Aktivität“ (1975), trägt den Soundstempel von Schneider am deutlichsten: ein Avantgarde-Hörstück, das die elektronischen Sprachforschungen eines Werner Meyer-Eppler sowie Stockhausens Klangexperimente im Umfeld des legendären WDR-Studios für elektronische Musik auf eine populärkulturelle Ebene transferierte.

Erkennbar geprägt hat Schneider auch das Album Computerwelt“ (1981) durch seine Faszination für die Gadgets der späten 1970er und 1980er Jahre, welche in der Tat auf spielerische Weise den Anbruch einer neuen Ära ankündigten. Der gnadenlos hämmernde Track „Nummern“ als Vorwegnahme von Techno ergab sich durch ein Experiment mit einem Frequenzshifter, die Anschaltmelodie seines Texas Instruments „Speak & Spell“-Geräts bauten Kraftwerk kurzerhand in „Computerwelt“ ein. Eine Alltagstechnologie-Apotheose wie „Taschenrechner“ ist reiner Schneider. Und veritable Prophetie: Portable Rechner mit Digitalkamera und Telefonfunktion haben heutzutage alle in ihrer Tasche stecken.

Prophetische Warnung

„Computerwelt“ war zugleich eine prophetische Warnung vor staatlicher Überwachung, der gegenwärtig alle ausgesetzt sind. Hütter erklärte das Ziel von „Computerwelt“ einmal so: „Wir wollen Strukturen transparent machen, es ist eine Provokationstechnik. Man muss nämlich seinen Standpunkt klarmachen, um Dinge ändern zu können. Indem wir Entwicklungen transparent machen, können reaktionäre Strukturen zusammenbrechen.“

Die Textzeile „Am Heimcomputer sitz ich hier / Programmier die Zukunft mir“ konnte Florian Schneider schreiben, da er einen solches Gerät bereits besaß, als es für Normalsterbliche noch unerschwinglich war. Mehr noch als Ralf Hütter entstammte er einem betuchten Haushalt. Seine Mutter Evamaria war, in der Diktion des Unmenschen, eine „Halbjüdin“, die Lyrik schrieb. Sie heiratete 1946 den Architekten Paul Maximilian Heinrich Schneider von Esleben, der solch ikonische Bauten des Wirtschaftswunders erschuf wie den Flughafen Köln-Bonn (der Brian Eno bekanntlich zu seinem Ambientalbum „Music for Airports“ inspirierte).

Schneider wuchs mit einem großbürgerlichen Lebensstil auf, zu dem Yacht und Ferienhaus in Südfrankreich gehörten. Bei den Künstler-Soirees in der Villa von Schneider-Esleben waren Beuys und andere Lichtgestalten der Düsseldorfer Kunstakademie zu Gast. Zweifellos ein Privileg, womöglich aber auch ein Fluch.

Vermutlich wird es im Großbürgerhaushalt auch Dienstkräfte gegeben haben; als solche jedenfalls behandelten Schneider wie Hütter ihre Kraftwerk-Mitstreiter Karl Bartos und Wolfgang Flür, die Wesentliches zu den Platten der „klassischen Phase“ von 1974 bis 1981 beitrugen und später aus der Geschichte der Gruppe weitgehend ausradiert wurden. Auch im Fall des ersten Produzenten Conny Plank wie bei Emil Schult, der das Gründungsgespann als inoffizielles Bandmitglied langjährig künstlerisch beriet, verfuhren Hütter und Schneider autokratisch.

Das Kernduo als Gilbert & George

Das Kernduo war ein Gespann wie Jagger/Richards, Lennon/McCartney oder Gilbert & George – Herr Kling & Herr Klang, Hütter und Schneider brauchten sich gegenseitig, Kraftwerk war ihr Gemeinschaftswerk. Für ungefähr sechs Monate im Jahr 1971 war Florian Schneider sogar alleiniger Chef von Kraftwerk; Hütter hatte die Band vorübergehend verlassen, um sein Architekturstudium zu beenden. Dass Schneider seinem Kollegen mit der Zeit die Rolle des Sängers und Bandsprechers überließ, war wohl nicht dem Dominanzstreben Hütters geschuldet, sondern eher der erkennbaren Menschenscheu von Schneider.

Florian Schneider entsprach dem Typus des Nerds, der sich obsessiv auf bestimmte Sondergebiete kaprizierte. So wie die Sprachsynthese, in der er eine derartige Expertise entwickelte, dass führende Forscher seinen Rat suchten. Oder das Rennradfahren: Nachdem er die „Radsportgruppe Schneider“ gegründet hatte, investierten er und Hütter ab den 1980er Jahren mehr Zeit und Energie ins Fahrradfahren als ins Musikmachen.

Schneiders Abneigung gegen das Touren und seine Bühnenscheu brachte die Band allerdings immer wieder in die Bredouille. Bei einem Auftritt in Melbourne während der Welttournee zu „Computerwelt“ setze er sich einfach in die erste Reihe und musste erst durch Zureden bewegt werden, das Konzert zu spielen. Vermutlich kein Zufall ist der Umstand, dass Kraftwerk, kaum dass er die Band um 2008 offiziell verlassen hatte, unter Hütters Ägide auf eine gleichsam never ending tour gingen. Sei es, weil nun endlich die Bahn frei war, sei es, um das Geld für Schneiders Abfindung wieder hereinzuholen.

Angebliches neues Album

Nur spekulieren kann man darüber, ob Schneider einfach das Interesse verlor daran, Mitglied einer Band zu sein, die keine neue Musik mehr machte. Anderseits veröffentlichte er – bis auf den musikalisch wenig berauschenden Track „Stop Plastic Pollution“ (2015) – keine neue Musik mehr. Angeblich soll er ein ganzes Album aufgenommen haben, veröffentlichte es aber aus Angst vor negativer Kritik nicht. Seine letzte Tat für Kraftwerk waren die synthetischen Vocals für „Expo 2000“ von 1999. Am 2003er Studioalbum „Tour de France“ scheint er kaum noch mitgearbeitet zu ­haben.

Was bleibt von Florian Schneiders Werk? Die in bester britischer Naivität vergiftete Hommage von David Bowie, der ein Instrumental seines Albums „Heroes“ mit „V2 Schneider“ betitelte? Die von Iggy Pop erzählte Anekdote vom gemeinsamen Spargelshopping in Düsseldorf? Nein, was bleibt, ist das von Ralf Hütter bis heute fortgeführte popmusikalische Gesamtkunstwerk Kraftwerk, die musikalische Mensch-Maschine aus Düsseldorf, die sich als der bedeutendste deutsche Beitrag zur transnationalen Sprache des Pop erwiesen hat.

Wer also Florian Schneider die Ehre erweisen möchte, sollte das atemberaubende audiovisuelle Spektakel eines Kraftwerk-Konzerts besuchen, solange Ralf Hütter noch am Leben ist, und darüber staunen, was es da zu hören und zu sehen gibt.

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