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Menschen auf einem erschöpften Schiff

Der Hamburger Stadtteil St. Pauli ist ein Brennglas: Auch in Zeiten des Abstands wird hier eng zusammengelebt. Aber in manchen Existenzen wird es inzwischen dunkler

Keine Arbeit für den Stadtführer: geschlossenes Restaurant auf St. Pauli Foto: Jörg Modrow/laif

Von Simone Buchholz

St. Pauli lebt von dem, was nicht mehr sein darf – Bühnenkunst, lebendige Gas­tro­nomie, Tourismus, Protest, blühende Kultur, Superheldentum, Comic Life. Nach gut fünf Wochen Shutdown hat sich dieses Leben grundlegend verändert. Es ist stiller geworden, trauriger, die ach so stabile Seele des Hamburger Stadtteils, in dem alle immer ganz nah beieinander sitzen und sich gegenseitig anfassen, hat ein paar tiefe Kratzer abbekommen, das Gefüge bricht auseinander. Gleichzeitig schlägt das Herz kraftvoller denn je, wenn auch ein bisschen langsamer. Es ist erschöpft vom vielen Hoffen.

Aber der Reihe nach.

Wenn ich dieser Tage durchs Viertel gehe, sehe ich immer noch viele schöne Momente. Nachbarschaft, die füreinander da ist. Kleine Cafés und Restaurants, die fröhlich außer Haus verkaufen, aber davor stehen keine Menschentrauben, alle verteilen sich, so gut es in den engen Straßen geht. Im Supermarkt wird mit den Augen gelächelt, was das Zeug hält, und von der Käsetheke bis zur Kasse werden herrlich blöde Witze gemacht.

Die Obdachlosen bekommen immer noch Geld, auch von denen, die selbst nicht viel haben, einfach weil sich das so gehört. Vorher immer noch ein kurzer Schnack.

Viele Leute reden sehr viel miteinander, und die Frage „Wie geht’s dir?“ ist ernstgemeint, sie wird schnell nachgeschoben, falls sie doch mal vergessen wurde, und dann hört man sich gegenseitig zu. Vor dem alteingesessenen Restaurant in der Nähe des St. Pauli Theaters hatten die Besitzer neulich einen Tisch vor die Tür gestellt, mit weißer Tischdecke, vier Gläsern Wein und vier Tellern Essen. Am Tisch saßen vier Leute, an jeder Seite ein Mensch. Genau genommen streng verboten. Dann fuhr eine Polizeistreife durch. Oh. Schwierig. Hm.

Fenster runter, den Tisch anschauen.

„Sieht ja gut aus, Leute, lasst es euch schmecken.“

Allumfassendes Winken, Lächeln, danke.

Überhaupt, man muss es so sagen: die Polizei. Zwei bürgernahe Beamte, die mit drei Frauen – alle auf mindestens zwei Meter Abstand – zusammenstehen und reden, über dies und das. Dann der Einwurf einer Frau aus der Gruppe: „Jungs, das ist jetzt aber schon eine Versammlung, oder?“

„Ach, Quatsch, wir reden doch nur, das passt schon.“

Der eine sagte, sie seien zurzeit mehr Sozialarbeiter als Polizisten, klingeln bei alten Menschen, um sie auf einen Schnack ans Fenster zu holen. Solche Sachen.

Oder die Masken, hihi. Okay, halb St. Pauli sucht nach einer Möglichkeit, irgendwie durch die Dinger zu rauchen, aber sie sind vollständig akzeptiert und gehören jetzt zum Stadtbild. Weil man hier ja eh schon immer aussehen durfte, wie man wollte. Und weil den Schneidern und kleinen Läden das Zeug verdammt noch mal abgekauft werden muss, sie strengen sich doch alle so an, den Kram zu basteln.

Oder die Masken, hihi. Okay, halb St. Pauli sucht nach einer Möglichkeit, irgendwie durch die Dinger zu rauchen

Es ist die Solidarität, die das Leben weiter zusammenhält, der Gedanke, dass gerade in einem Hafenviertel alle in einem einzigen großen Schiff sitzen.

Aber da ist auch die Trauer. Der Stadtführer mit zwei Kindern, der weiß, dass er dieses Jahr nicht mehr wird arbeiten können. Die beiden allein­erziehenden Mütter mit dem einstmals florierenden Restaurant. Das Kollektiv aus St. Paulianerinnen, das sich im letzten Jahr verschuldet hat, um eine Eckkneipe zu retten. Die Sexarbeiterinnen. Und all die Mütter, die tagsüber ihre Kinder beschulen und betreuen und nachts arbeiten und nicht mehr können. Die Frühlingsdebütant*innen in allen Künsten. Ich kann jetzt gar nicht alle aufzählen, sonst kommen mir die Tränen, denn sie alle vollbringen gerade Großes, indem sie helfen, die Reproduktionszahl eines potenziell tödlichen Virus unter eins zu halten.

Dieser Stadtteil ist ein Brennglas unserer Gesellschaft. Hier leben sehr viele Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensentwürfen auf engem Raum zusammen, alle Schichten, alle Generationen, alle Geschlechter. (Fun Fact: Hier findet sogar die Waffenindustrie statt.) Das Einzige, was es auf St. Pauli nicht gibt: die Autoindustrie. Dafür aber Menschen, Menschen, ­Menschen (denen man zumindest mit einer autofreien Innenstadt mal ein bisschen mehr Raum geben könnte). Sie sehnen sich nach Hoffnung. Nach Ideen und klugen Konzepten, wie es für sie weitergehen kann. Nach einem Zeichen, das ihnen sagt: Wir denken an euch. Macht ein warmes Licht an für die Kinder, die Eltern, die Alten, die Frei­be­ruf­le­r*innen und Künstle­r*innen, die Kas­sie­re­r*in­nen, die Taxi­fah­re­r*innen, die Büh­nen­ar­bei­ter*in­nen, die Gas­tro­nom*in­nen, die Filmschaffenden, das medizinische Personal, die Super­hel­d*innen (manchmal nachts höre ich noch jemanden fliegen, flapp, flapp, mit letzter Kraft).

Noch sind sie alle da.

Aber in manchen Seelen und Existenzen wird es Stück für Stück dunkler. Das Licht droht zu erlöschen.

Die Autorinlebt als Schriftstellerin auf St. Pauli. Zuletzt erschien der Kriminalroman „Hotel Cartagena“ (Suhrkamp Verlag). Am 24. März schrieb sie zum ersten Mal über St. Pauli unter Corona in der taz.

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