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Zaunkönige der Nacht

Berlin ist nicht nur Europas Metropole der elektronischen Musik, sondern auch die „Stadt der Nachtigallen“ – beschreibt der Musiker David Rothenberg im gleichnamigen Buch

Keine Lerche Foto: Metodi Popow/imago

Von Tom Wohlfarth

Dieser Frühling ist offenkundig von vielfachen Widersprüchen geprägt. Einerseits sind die meisten von uns trotz des inzwischen ja schon erwartbaren Rekordwetters weitgehend ans Haus gefesselt – oder fühlen sich zumindest so. Andererseits hat man in manchen Naherholungsgebieten derzeit den Eindruck, sie noch nie so voll erlebt zu haben wie in diesen Zeiten der Corona-Kontaktsperre. Denn viel anderes als Spazierengehen ist derzeit zur Zerstreuung ja auch nicht zu machen – und umso nötiger, wenn gerade wieder die Kinder durchs Homeoffice toben.

So ist man sich aber doch nicht ganz sicher, wie gelegen das Buch des amerikanischen Musikers und Musikologen David Rothenberg, „Stadt der Nachtigallen“ über „Berlins perfekten Sound“ gerade kommt. Lesen ist ja eigentlich erstmal unverfänglich, inzwischen vielleicht sogar – im gehörigen Abstand – auf einer Parkbank. Da viele aber – entgegen anfänglicher Euphorie – eben jetzt gerade nicht die Ruhe zum ausgiebigen Lesen finden, ist es zumindest schon mal gut, dass zeitgleich auch ein kurzes Audio-Feature zum Buch auf CD erscheint.

Nachdem er bereits mit Walen, Insekten und anderen Vögeln gemeinsam musiziert und darüber geschrieben hatte, hörte Rothenberg den einzigartigen Gesang der nur in Europa, Afrika und Asien heimischen Nachtigall zum ersten Mal während eines längeren Aufenthalts in Helsinki und war völlig überrascht, dass dieser Vogel keineswegs so lieblich und melodiös zwitscherte, wie man es angesichts zahlloser kulturgeschichtlicher Huldigungen erwarten könnte. Es war eher eine „Attacke mit seltsamen Rhythmen“, eine höchst „fremdartige Musik“, die mehr an elektronische Klänge denken ließ, als an den Gesang von Vögeln.

Rothenberg war so fasziniert, dass er beschloss, zu einem Forschungsaufenthalt in Europas Hauptstadt nicht nur der elektronischen Musik, sondern auch der Nachtigallen zu reisen: nach Berlin. Im Frühling 2014 spielte er hier seine ersten Live-Konzerte mit den gefiederten Sängern in der Berliner Hasenheide, im Treptower Park oder dem Humboldthain.

Die Vögel kehren ab Mitte April aus ihren Winterquartieren in Afrika zurück, und oftmals suchen die Männchen exakt denselben Brutplatz wie im Vorjahr auf und versuchen, mit ihrem nächtlichen Gesang die Weibchen zu begeistern. Und in der Tat wecken die Klangbeispiele im Feature sehnsüchtige Erinnerungen an laue Frühlingsnächte im Park, so seltsam vertraut ist einem dieser befremdlich faszinierende Nachtgesang in Berlin, dessen halbwilde Habitate offenbar den optimalen Lebensraum für Nachtigallen bieten.

Doch die Vögel singen nicht nur in den Parks, auch auf einsamen Bäumen, klangverstärkenden Brachen und sogar auf lauten Straßenkreuzungen sind sie zu hören. Das Besondere an den Berliner Nachtigallen ist laut Rothenberg, dass sie den Stadtlärm offenbar nicht als Störung empfinden, sondern als Ansporn, noch lauter zu singen, um ihn zu übertönen. Auf respektvolles gemeinsames Musizieren können sie allerdings ähnlich offen und empfänglich reagieren wie menschliche Musiker in einer Jam-Session oder Jazz-Improvisation.

Bereits 2015 hat Rothenberg, dessen Instrument die Klarinette ist, gemeinsam mit dem Berliner Digital-Musiker Korhan Erel das Album „Berlin Bülbül“ veröffentlicht („Bülbül“ heißt die Nachtigall auf Türkisch). Das Feature enthält nun Ausschnitte aus dem 2019 erschienenen Album „Nightingales in Berlin“, das eine ganze Reihe von internationalen Musikern versammelt, die sich auf Rothenbergs Art des „speziesübergreifenden Musizierens“ eingelassen haben, etwa die estnisch-französische Singer-Songwriterin Lembe Lokk oder die deutsche Opernsängerin Ines Theileis (auch ein Dokumentarfilm über das Projekt ist gerade auf Festivaltour).

Stadtlärm stört sie nicht – er spornt sie nur an, noch lauter zu singen

Diese Musik ist ein grandios entrückendes Erlebnis, und das Feature gibt einen guten Eindruck von ihr, nicht wenige Hörer dürften im Anschluss mehr davon hören wollen. Auch deshalb wäre es wünschenswert gewesen, aus dem Feature ein Doppelalbum mit Musik-CD zu machen. Nicht weil man Rothenberg nicht auch den zusätzlichen Verkauf seiner Musik-Alben wünscht (die oft aber ohnehin nur digital verfügbar sind), sondern weil das nicht mal einstündige Feature – obwohl sehr gelungen – vielleicht doch etwas wenig ist, um allein einen CD-Kauf für knapp 17 Euro zu rechtfertigen.

Vor allem, wenn man dann auch noch Lust auf das Buch bekommen hat. Denn auch das lohnt die Lektüre, um mehr über die geheimnisvolle Welt der Klänge, nicht nur der Nachtigallen zu erfahren. Es ist der faszinierende Bericht eines Grenzgängers nicht nur zwischen menschlichen Kulturen, sondern vor allem auch zwischen Kultur und Natur, in all ihrer irdischen Vielfalt, der den Eigenwert der Kunst für die Erkenntnis der Natur betont.

Eigentlich kehrt Rothenberg jedes Jahr im Frühling für ein paar Nachtigall-Konzerte nach Berlin zurück. Das könnte in diesem Jahr schwieriger werden. Keine schlechte Gelegenheit aber, um die ruhigen Berliner Frühlingsnächte auf eigene Faust zu erkunden und vielleicht auch selbst mit den kleinen Zaunkönigen der Nacht zu musizieren. Denn dafür gibt es bislang zum Glück noch keine Kontaktbeschränkungen.

David Rothenberg: „Stadt der Nachtigallen. Berlins perfekter Sound“. Feature, mit: Eva Mattes, Julian Mehne und David Rothenberg, 56 Min., 1 CD, 16,95 Euro (als Download auch bei Amazon/Audible), basierend auf David Rothenbergs gleichnamigem Buch, Rowohlt, 264 Seiten, 26 Euro

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