Kammerpop hilft bei der Inselbildung

Der US-Künstler Moses Sumney erforscht mit dem Album „græ“ das Alleinsein, passend zum Zeitalter des Social Distancing

In Los Angeles war ihm zu viel Rummel: Moses Sumney Foto: Eric Gyamfi

Von Stephanie Grimm

Derzeit ist es nicht der sprichwörtliche „Niemand“, der eine Insel ist. Im Gegenteil, seit Corona sind wir alle Inseln. Denn wir müssen Abstand zueinander halten. „Isolation comes from ‚insula‘ which means island.“ Den Satz wiederholt Moses Sumney, eklektischer kalifornischer Kammerpopmusiker mit ghanaischen Wurzeln, gleich viermal im programmatischen Auftaktsong auf seinem neuen Album „græ“. Es ist so etwas wie das definitive Werk zur Coronakrise.

Schließlich kommt man im Zeitalter des Social Distancing am Nachdenken übers Alleinsein kaum vorbei. Wobei für Sumney Isolation ein Zustand ist, den er durchaus schätzt. Und zugleich das Thema, das sich als roter Faden durch sein Schaffen zieht. Schon auf seinem Debüt „Aromaticism“ (2017) leuchtete der 28-Jährige aus, wie sich ein Leben anfühlt, wenn man sich für Zweisamkeit nicht interessiert, und das in dieser auf romantische Liebe fixierten Welt.

„Die Leute sagen gerne: ‚Ich bin allein, einsam bin aber ich nicht.‘ Damit sind sie nicht ehrlich zu sich selbst. Ich jedenfalls fühle mich oft einsam – mag das Alleinsein aber trotzdem. Für mich als Künstler ist Einsamkeit ein produktiver Zustand – nicht zuletzt, weil es ein glaubwürdiges Gefühl ist, das mir erlaubt, Gedanken zu sortieren, mit mir selbst in engen Kontakt zu kommen“, erzählt Moses Sumney im Gespräch anlässlich der Veröffentlichung seines Doppelalbums: Teil eins ist vor Kurzem erschienen, Teil zwei folgt im Mai.

Für diese Zweiteilung hat er sich entschieden, weil das Gesamtpaket seine HörerInnen überfordern würde, so dicht und komplex, wie es sei. Er wolle ihnen Zeit geben, sich angemessen damit zu beschäftigen. Bescheidenheit ist Sumneys Sache nicht. Am Tag des Interviews schließen in Deutschland die Schulen, das öffentliche Leben wird peu à peu heruntergefahren.

Einerseits, erzählt Sumney, nerve ihn die Ausnahmesituation, schließlich habe er in den nächsten Wochen viel vor: Konzerte, Videoproduktionen, was um eine Veröffentlichung eben an Promotion stattfindet. Andererseits beobachtet er mit einer gewissen Faszination, wie vermutlich viele in diesem frühen Stadium des Shutdowns, was passiert, wenn ganze Gesellschaften in die Isolation geschickt werden.

Künftig zu viel Zeit alleine verbringen zu müssen, davor fürchtet sich der US-Künstler nicht. Diesen Zustand findet er grundsätzlich anregend: „Ich lerne am meisten, wenn ich allein bin – über mich und über die Gesellschaft als Ganzes. Selbst wenn ich mich einsam fühle, mag das zwar nicht toll sein, aber ich bin doch dankbar, dieses Gefühl zu erfahren.“ Allein zu sein, so Sumney, sei ein Privileg: „Nicht jeder hat die Chance, den nötigen Mut oder die finanziellen Mittel.“ Es steckt einiges an Pathos in dieser Behauptung: Eine archaische, romantische Projektion auf die Existenz des Künstlers, der quasi abgeschieden und unbehelligt von der Welt aus sich selbst schöpft.

Vielleicht hat Sumney einfach aus der Not eine Tugend gemacht. Seine Jugend verbrachte er in Ghana und in Los Angeles. Inzwischen lebt er im Hippienest Asheville, North Carolina – in freiwilliger Abgeschiedenheit. Seine Eltern, ghanaische Einwanderer, arbeiten in den USA als Pastoren und gingen berufsbedingt für einige Jahre in die alte Heimat. Sumney verbrachte dort unglückliche Teenagerjahre, von Mitschülern wie Lehrern geschnitten, schließlich sprach er nicht mal die lokale Sprache. Er blieb „der Amerikaner“ und klammerte sich an alles, was ihn als solchen auswies: seine Indiepop-Sozialisation etwa. Zurück in Kalifornien studierte er Creative Writing und machte ein Praktikum in einer Werbeagentur, die auf Markenpflege spezialisiert war – zwei Koordinaten, deren Spannbreite sein Schaffen bis heute umreißt.

In Sachen Selbstinszenierung überließ Sumney nichts dem Zufall. Mitte der zehner Jahre begann er, an seinem soulig-elektronischen Kammerpop zu feilen; schnell wurde er zum heißen Ding, Major-Labels begannen, sich für ihn zu interessieren. Doch Sumney zog die Handbremse, schlug lukrative Angebote aus und landete beim US-Indielabel Jagjaguwar. Als ihm dann nach Veröffentlichung seines Debütalbums Los Angeles zu rummelig, sein sozialer Zirkel zu prominent wurde – unter anderem tauchte er öfter im Instagramfeed von Solange Knowles auf –, zog er von der US-Westküste nach North Carolina. Und freut sich seither daran, dass in Asheville so gut wie nix los ist.

„Einsam kann ich besser Gedanken sortieren“

Moses Sumney

Seine Fokussiertheit hat sich gelohnt. Das neue Album „græ“ stellt gegenüber dem auch schon ziemlich tollen Debüt „Aromaticism“ einen Quantensprung dar. Sumneys Fusion von Soul, Artpop, Jazz, Elektronik und Spoken Word hat nicht nur dank seines kunstvoll mäandernden Falsetts hohen Wiedererkennungswert, sondern auch, weil seine Stücke eine eigenwillige Spannung aufbauen: Sie sind elegisch und dynamisch zugleich, klaustrophobisch und explosiv.

„In unserer Kultur, besonders in der digitalen, lag in den letzten 15 Jahren der Schwerpunkt darauf, zu netzwerken – was allzu oft keine reale Verbindung ist. Vielen Menschen ist die Fähigkeit abhanden gekommen, allein mit sich und ihren Gedanken zu sein.“ Wie schon beim Vorgänger, der sich der Aromantik widmete, hat auch das neue Album ein konkretes Thema: Es handelt von der Isolationsgrundierung. Der Albumtitel bedeutet „grau“. Es geht um Binäres, Zwischenräume und Grauzonen – und Identitäten als soziales Gefängnis. „I insist on my right to be multiple“, heißt es nebst ausführlicher Begründung in „also also also and and AND“, was sich als programmatische Ansage lesen lässt. In dem von einem elektronischen Stakkato vorangetriebenen, zugleich in ein pulsierendes Wabern eingebetteten „boxes“ sind dann fünf Künstlerfreude Sumneys zu hören, unter anderem der Schriftsteller Michael Chabon und der Schauspieler Ezra Miller.

Sumney hat sie zu Identität und Individualität befragt hat und lässt sie trotzdem mit einheitlicher Stimme reden: Ihre eigenen Stimmen sind so nachbearbeitet, dass sie identisch klingen: „Dissatisfaction seems like the natural byproduct of identification / I truly believe that people who define you control you“, heißt es an einer Stelle – vielleicht eine Einsicht, die sich einstellt, wenn man Abstand nimmt von sozialen Zusammenhängen.

So verkopft „græ“ auf konzeptueller Ebene klingen mag: Moses Sumneys neues Album erweist sich nicht nur als ideendichte Angelegenheit, sondern auch als musikalische Wundertüte: vollgestopft, aber eingängig genug, um zugänglich zu sein.

Moses Sumney: „græ“ (Jagjaguwar/Cargo)