Digital, aber prekär

Das Sommersemester soll ein „Nicht-Semester“ werden

Foto: privat

Andrea

Geier,48 Jahre, ist Literaturwissenschaftlerin an der Universität Trier. Zusammen mit Paula-Irene Villa Braslavsky von der LMU München und Ruth Mayer von der Leibniz Universität Hannover hat Geier den offenen Brief veröffentlicht. Bislang haben ihn mehr als 9.000 Forscher*innen unterzeichnet. Den offenen Brief finden Sie unter

www.nichtsemester.de

Interview Georg Sturm

taz: Frau Geier, in Ihrem offenen Brief fordern Sie, dass das kommende Sommersemester ein Nicht-Semester werden soll. Was heißt das?

Andrea Geier: Das heißt, dass wir die Logik des Semesters an die Tatsache anpassen, dass es sich um ein Ausnahmesemester handelt. Nicht-Semester ist der Begriff dafür, dass erst mal nicht gezählt wird. Das heißt, es soll Lehre stattfinden – im Rahmen dessen, was für alle Beteiligten möglich ist. Aber die Logik ist eine andere: Wir möchten von der Ausnahmesituation her denken und nicht von einem irgendwie abgespeckten Normalbetrieb. Das hat Folgen auf mehreren Ebenen.

Welche denn?

Zum Beispiel Lehrende auf Hochdeputatsstellen, die im Durchschnitt acht Seminare mit je zwanzig bis vierzig Teilnehmern haben, müssen diese in den nächsten Wochen irgendwie von Präsenzlehre auf Online-Lehre umstellen. Damit das funktioniert, wäre es zum Beispiel sinnvoll, nur vier statt acht Seminare zu machen. Diese vier könnten sie dafür mit dem erhöhten Aufwand der Online-Lehre und der Semestervorbereitung auch tatsächlich sinnvoll durchführen. Wir müssen schauen: Wer kann was leisten? Welche Kurse eignen sich? Welche Kurse müssen unbedingt als Pflichtseminare stattfinden? Was nicht notwendig ist, kann wegfallen, ohne dass es nachgeholt werden muss.

Welchen Nutzen hätte ein Nicht-Semester für die befristet Beschäftigten?

Auch für die befristet Beschäftigten würde es bedeuten, dass dieses Semester nicht gerechnet wird. Man könnte sagen: Da ihr jetzt einen erhöhten Aufwand für die Umstellung auf Online-Lehre habt, Bibliotheken geschlossen wurden sowie Archivarbeit und Feldforschung nicht möglich sind, verlängern wir eure Verträge um mindestens ein halbes Jahr. In der Logik des Normalbetriebs hingegen müsste jeder Einzelne schauen, irgendwie durchzukommen und die höhere Belastung vielleicht geltend machen zu können.

Nimmt ein solches Nicht-Semester nicht den Druck von den Hochschulen, digitale Lernformate tatsächlich schnell zu entwickeln und anzuwenden?

Ich glaube, es ist genau umgekehrt. Eine positive Entwicklung in der Digitalisierung macht man mit entsprechenden Ressourcen und Vorbereitung. Momentan wird versucht, alles auf online umzustellen, ohne dass dabei didaktische Konzepte oder ein sinnvoller Nutzen im Vordergrund stehen. Das meiste, das nun digital auf die Schnelle entwickelt wird, ist nicht nachhaltig. Wer jetzt feiert, dass wir mehr Digitalisierung bekommen, versteht die Rahmenbedingungen nicht, unter denen wir das gerade tun. Das sind ja keine Digitalisierungsfestspiele, das ist ein Notreparaturbetrieb.