Besetzen per Livestream

In Berlin werden Wohnungen besetzt, um Obdachlose unterzu-
bringen. Das Bündnis #besetzen überträgt die Aktion ins Netz

Leer stehende Wohnungen hätten sie viele gefunden,

sagt einer der Besetzer

Von Erik Peter

„Fühlt Euch wie zu Hause“, sagt der junge Aktivist zu seinen zwei Mitstreiterinnen, nachdem er die Tür zu einer Wohnung im Schillerkiez aufgeschlossen hat. Zwei Zimmer, Küche, Bad, ein sonnendurchfluteter Traum für jeden leidgeplagten Wohnungssuchenden. Die weißen Wände riechen noch nach Farbe; neue Mieter könnten hier sofort einziehen.

Doch die drei linken BesetzerInnen haben andere Pläne als die Briefkastenfirma, der das Haus gehört: Sie erklären die Wohnung für besetzt. Das Schloss hatten sie bereits zuvor ausgetauscht.

Ähnliche Szenen spielten sich am Samstag auch an vielen anderen Orten der Stadt ab. Insgesamt zehn Wohnungen hat das Bündnis #besetzen in Beschlag genommen. Die Adressen jedoch bleiben geheim. Anders als in den vergangenen zwei Jahren, als immer wieder, sichtbar für alle, Häuser besetzt wurden, handelt es sich an diesem Samstag um stille, also heimliche Besetzungen, ganz ohne Fenstertransparente und Polizeikontakt.

Die AktivistInnen wollen die Wohnungen an Obdachlose weitergeben. „Die Coronakrise zeigt nochmals viel deutlicher die Verletzlichkeit von Obdachlosen und Menschen in Lagern.“ Diese hätten „keine Privatsphäre, keine Hygiene, keinen Schutz“, sagt der Wohnungsbesetzer, der sich Kim Schmitz nennt, zu seiner Motivation. Für mehrere Wohnungen stünden Obdachlose bereit. Sie würden von den AktivistInnen umfassend unterstützt, auch mit Anwälten und dem Versprechen, Geldstrafen zu übernehmen, falls die Aktion auffliegt.

Wirklich still gingen die Besetzungen dennoch nicht vonstatten. Videos aus den Wohnungen wurden in einem stundenlangen Stream auf dem Live-Streaming-Portal Twitch übertragen. Teilweise in Echtzeit, teilweise zeitversetzt, gab es Eindrücke aus leeren Wohnungen und von vermummten AktivistInnen. Diese legten Matratzen aus und hinterließen politische Botschaften an den Wänden. Vorgeführt wurde auch ein voll eingerichtetes Airbnb-Appartment, groß genug, um drei Menschen, die Abstand zueinander halten, unterzubringen.

Von den BesetzerInnen selbst gibt es dazu viel Input über soziale Probleme in Zeiten von Corona, über Obdachlose, Flüchtlinge und Menschen, die ohne Einkommen ihre Miete nicht mehr zahlen können. Gestreamt wurden auch Interviews, etwa mit VertreterInnen von Zwangsräumungen verhindern, den Migrant Strikers oder der Berliner Obdachlosenhilfe.

Am Anfang des Streams ist eine Texttafel zu sehen: „Kontaktverbot. Versammlungsverbot. Scharfe Ausgangsbeschränkungen. Es scheint, als müssten wir in Zeiten von Corona all unseren politischen Aktivismus zurückfahren. Aber das muss nicht so sein.“ Das Virus ist dabei trotzdem nicht vergessen. „Wir sind nur in Zweier- und Dreierteams unterwegs, für unsere eigene Sicherheit“, so Schmitz.

Die Besetzungsaktionen sind Teil des Housing Action Day und sind nach dem Verbot der geplanten Großdemonstration im Eiltempo vorbereitet worden. Leer stehende Wohnungen hätten sie viele gefunden, sagt Schmitz. „Durch den Mietendeckel halten VermieterInnen Wohnungen zurück, und AirBnB-Wohnungen sind jetzt nicht nur falsch, sondern werden gar nicht mehr genutzt.“ Es sei „zynisch, dass gleichzeitig Leute auf der Straße leben“.

Das Bündnis #besetzen hatte vor knapp zwei Jahren erstmals ein leer stehendes Wohnhaus in Neukölln besetzt. Bei der bislang letzten Aktion Ende September waren die AktivistInnen in ein leer stehendes Gebäude in der Frankfurter Allee eingedrungen und hatten erwirkt, über die künftige Nutzung des Hauses zu verhandeln.

Diskussionen über Besetzungen oder Beschlagnahmungen haben in den vergangenen Wochen in der Coronakrise an Dynamik gewonnen. In Berlin forderten mietenpolitische Organisationen in einem offenen Brief, dass Obdachlose in Hotels und Ferienwohnungen untergebracht werden sollen.