: Im Uhrlaub – ein Selbstversuch
Drei Tage an der Nordsee, um sich vor der Zeit zu verstecken. Ohne Uhr sein, ist das wirklich ein Segen?
Drei Tage ohne Uhrzeit. Das klingt einfach. Meine Armbanduhr trage ich seit Jahren nicht mehr. Und die Uhr an meinem Handy brauche ich nur, wenn ich Termine habe. Also eigentlich ziemlich oft. Deshalb wähle ich für mein Experiment den leichteren Weg und fahre in den Urlaub. Ein Häuschen an der winterlichen Nordsee ist perfekt, um die Zeit zu vergessen.
Zuallererst kaufen die Urlaubsbegleitung und ich für mindestens drei Tage ein. Wir wollen vermeiden, in die Zivilisation zurückzumüssen. Denn dort lauern überall Uhrzeiten: An der Anzeigetafel der Bushaltestelle. Auf dem Kassendisplay im Bus, wenn wir das Ticket kaufen. Auf dem Ticket, wenn wir das Ticket abstempeln. Auf dem Handy der Person vor mir in der Supermarktschlange. Auf dem Kassendisplay im Supermarkt.
Deshalb nichts wie zurück ins Häuschen. Doch auch dort, in diesem winzigen Feriendomizil, wimmelt es vor Uhren. Die digitale im Bad drehen wir um, die im Wohnzimmer auch.
Nur die Uhren auf dem Handy, noch so unsmart, und auf den Computern lassen sich nicht ausblenden. Im YouTube-Video, das helfen will, fällt schnell das Wort Jailbreak. Ich wähle die analoge Variante und überklebe die gefährlichen Ziffernbereiche am Computer mit Klebeband. Am Handy wechsele ich immer wieder die Zeitzonen. Zunächst Montevideo in Uruguay. Ertappe ich mich beim Nachrechnen, geht es nach Wolgograd, dann nach Johannesburg, Norwegen kommt mir zu verräterisch vor, deshalb schließlich nach New York.
Und dann sind wir uhrzeitlos. Was uns nun lenkt: Helligkeit am Morgen, Dunkelheit in der Nacht. Fühlt sich gut an. Willkommen, Freiheit!
Doch schon während der ersten Dunkelheit kreisen meine Gedanken darum, wie viel Uhr es wohl gerade sein mag. Als wäre ich ein Uhrzeitjunkie und mein subjektives Zeitempfinden ohne den Blick auf die Uhr aufgeschmissen. Ist es schon mitten in der Nacht? Sollte ich längst im Bett sein? „Ist doch total egal“, wirft die Urlaubsbegleitung ein, „wir werden ja am nächsten Morgen auch nicht wissen, wie lange wir geschlafen haben.“
Am nächsten Morgen wache ich auf und es ist hell. Sogleich habe ich das Gefühl, dass es schon richtig spät sein muss und ich den halben Tag verschlafen habe. Etwas, das ich schon immer damit verbinde, jede Menge verpasst zu haben. Na toll.
Beim Frühstück tauchen weitere Probleme auf. Wie können wir am Strand spazieren gehen? Der Gezeitenkalender warnt uns mit genauen Zeitangaben vor der einbrechenden Flut. Ohne die müssen wir sicherheitshalber einen weiten Bogen um das Meer machen. Und: das Radio. Ich mag sein Hintergrundgebrummel am Morgen. Nun müssen wir darauf verzichten. Es brummelt schließlich zu jeder vollen und halben Stunde die Nachrichten und verkündet dabei stolz die Uhrzeit.
Zu guter Letzt erhasche ich auch noch eine letzte, nicht abgeklebte Uhr beim Thermometer, das über dem Sofa hängt. Zumindest vermute ich sie als solche, dann klebe ich schon einen Post-it darauf. Hatte ich wirklich gedacht, es wäre einfach, ohne Uhrzeit zu leben?
Aber, ja: Nach etwa einem Tag wird es leichter. Meine Gedanken drehen sich weniger darum, wie viel Uhr es wohl gerade sein mag. Ich irre so lange draußen herum, bis es mich wieder zurück ins Häuschen zieht. Ich gehe ins Bett, wenn ich müde bin, und stehe wieder auf, wenn mir danach ist. Die Uhrzeit ist nicht mehr wichtig. Das Jetzt wird endlos und verschwindet ohne sein Davor und Danach. Es fühlt sich tatsächlich ein bisschen frei an.
Wegen eines wichtigen Telefonats muss meine Begleitung das Experiment vorzeitig abbrechen. Später erzählt sie mir, wie viel Uhr es war, als sie den Klebestreifen vom Computerbildschirm entfernte: 00:00 Uhr. Bei mir wird es 13:00 Uhr sein: Am dritten Tag sind nämlich unsere Vorräte aufgebraucht. Wir müssen Bus fahren, in die Zivilisation zurück. Wir brauchen die Uhrzeit und müssen uns ihr wieder ausliefern.
Dachte ich soeben noch, wie befreiend es ist, ihr eine Weile entkommen zu sein, ist es im nächsten Moment wohltuend, zu ihr zurückzukehren. Wieder Kontrolle zu haben. Einen Überblick. Zurück zum Takt, auf dem mein Leben gründet. Mit Fristen, Terminen und Wochenenden, an denen ich auf die Uhr schaue und mich genüsslich noch einmal im Bett umdrehe. Stella Schalamon
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