corona in bremen: „Jedes Gedicht suche ich persönlich für die Person aus“
Angelika Sinn, 58, ist freie Autorin, lehrt „Kreatives Schreiben“ an der Universität Bremen und war von 2006 bis 2019 Geschäftsführerin des Literaturkontors.
Interview Sophie Lahusen
taz: Frau Sinn, ab heute kann man sich am Telefon von Ihnen ein Gedicht vortragen lassen. Glauben Sie, die Menschen „trauen“ sich anzurufen und sind nicht zu schüchtern?
Angelika Sinn: Ich glaube schon, dass Menschen anrufen werden und neugierig sind, was sich hinter dem Angebot versteckt. Ich gehe dabei natürlich auch von mir selbst aus. Aber die Menschen haben mehr Zeit, sind zuhause und probieren vielleicht auch neue Angebote aus, es bleibt aber ein Versuch. Und anonym ist es ja dennoch, bei einer Lesung eine Frage zu stellen kostet denke ich mehr Mut.
Gibt es direkt ein Gedicht zu hören oder erst ein kurzes Gespräch?
Wenn die Menschen wegen speziellen Problemen oder allgemeinem Redebedarf anrufen, kann ich nicht helfen, aber ich versuche, in einem kurzen Gespräch zu horchen, was die Menschen gerne hätten und vielleicht gerade brauchen. Jedes Gedicht suche ich dann persönlich für die Person aus.
Das heißt, Ängste wegen Corona können dabei auch eine Rolle spielen?
Ich möchte das Wort „trösten“ gar nicht verwenden, aber ich versuche schon, Texte auszuwählen, die nicht unbedingt Tod, Sterben und Isolation zum Thema haben, sondern vielleicht eher Liebe, Freiheit oder auch Reisen. Dinge, die den Menschen vielleicht gerade fehlen.
Sodass Corona für einen Moment vergessen ist?
Ja, vielleicht etwas zum Träumen, etwas Aufmunterndes.
Was für AutorInnen gehören zu Ihrem Repertoire?
Ich habe einige in petto. Ich persönlich mag Else Lasker-Schüler sehr gerne, aber das ist natürlich auch ein bisschen düster. Oder auch Rainer Maria Rilke, Ingeborg Bachmann, Theodor Storm oder Paul Celan.
Wie erleben Sie diese „Kultur-Pause“ persönlich?
Sehr durchwachsen. Man macht sich natürlich viele Gedanken, was um einen herum passiert, aber es ist sehr schwierig sich schriftstellerisch damit zu befassen. Ich bin gerade an einer ganz anderen Arbeit, einem Reisebericht über Myanmar und damit träume ich mich etwas weg. Als Schriftstellerin bin ich Homeoffice, im Vergleich zu vielen anderen, ja gewöhnt, aber über die finanzielle Zukunft macht man sich als Freischaffende natürlich viele Gedanken.
Können Sie der „Corona-Zeit“ auch etwas abgewinnen?
Die Zeit inspiriert mich eigentlich nicht direkt, aber dadurch, dass vieles wegbricht, hat man die Möglichkeit kreativ zu werden. Ohne die Kontaktsperre oder die Isolation hätte es diese Lyrik-Hotline beispielsweise nie gegeben, die auf den ersten Blick vielleicht etwas altmodisch wirkt, aber eigentlich eine wirklich schöne Idee ist.
Lyrik-Hotline gegen kulturelle Isolation. Ab 2. April dienstags von 18-21 Uhr und donnerstags von 15-18 Uhr, unter der Rufnummer☎0176 53 56 80 84
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen