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„Wie sollen wir Hände waschen ohne Wasser?“

„Sozialistische Quarantäne“ herrscht in Venezuela. Das Gesundheitssystem lag schon vorher am Boden. Die Leute wissen nicht, wie sie das überstehen sollen

Von John Mark Shorack
(Caracas) und Tobias Lambert

Vor der Bäckerei in Caracas hat sich eine Schlange gebildet. Eintritt wird nur mit Mundschutz und in kleinen Gruppen gewährt. In dem einfachen Viertel Ruiz Pineda im Südwesten der venezolanischen Hauptstadt ist das vorherrschende Thema an diesem ersten Morgen mit Ausgangssperre auch beim Brotkauf das Coronavirus. „Dieses Land kann keine Quarantäne durchstehen“, sagte eine etwa 50-jährige Frau, die in der Schlange steht. „Wenn es wie früher wäre … aber die Löhne reichen heute kaum für ein Kilo Fleisch.“ Seit Montagfrüh gilt in Caracas die von Präsident Nicolás Maduro verhängte „soziale und kollektive Quarantäne“. Zunächst im Hauptstadtdistrikt sowie in den sechs Bundesstaaten, in denen bis Sonntag 17 Fälle von Covid-19 registriert wurden, durften die meisten Menschen nur noch zum Einkaufen vor die Tür. Außer wenigen Geschäften wie Supermärkten und Apotheken ist alles geschlossen.

Seit Dienstag gilt die Ausgangssperre landesweit. Die Zahl der nachweislich infizierten Personen war am Montag um 16 auf 33 Personen gestiegen, alle aus Europa oder Kolumbien eingereist.

Viele befürchten, dass Venezuela denkbar schlecht auf das Virus vorbereitet ist. Das staatliche Gesundheitssystem, vor einigen Jahren noch flächendeckend zugänglich, funktioniert nur noch rudimentär. Aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen, der Ineffizienz der Regierung und der US-Sanktionen sind die Krankenhäuser schlecht ausgestattet und viele Ärzte haben das Land verlassen.

Noch immer in Venezuela praktiziert Carlos Moyetones. „Für solch eine Situation sind die Krankenhäuser nicht gerüstet“, sagt der Arzt am Telefon. „Es fehlt sowohl an Medikamenten als auch an Infrastruktur.“

Der Mindestlohn beträgt umgerechnet nur wenige US-Dollar pro Monat und reicht theoretisch für gerade einmal eine Packung Maismehl, ein Stück Käse und zwei kleine Stück Seife. Hinzu kommt, dass viele Haushalte nur unregelmäßig über Strom und Wasser verfügen, selbst in Krankenhäusern ist die Versorgung nicht gewährleistet.

„Jetzt sagen sie, wir sollen uns die Hände waschen, aber wie sollen wir das machen, wenn wir kein Wasser haben?“, bemängelt Raul Martínez, der an der Bushaltestelle steht und in der Zeitung des Vortags blättert. Wie die meisten Leute hat er einen Mundschutz dabei, trägt ihn aber nicht ums Gesicht. „Wir bräuchten jeden Tag Wasser, nicht nur zweimal die Woche.“ Die Maßnahmen der Regierung kämen außerdem sehr plötzlich. „Sie hätten einen Vorlauf von zwei Tagen geben sollen, statt dies auf einen Schlag zu machen“, sagt Martínez.

Erst am vergangenen Donnerstag, als noch kein Fall von Covid-19 nachgewiesen war, hatte Maduro den Gesundheitsnotstand erklärt. Unter anderem untersagte er größere Veranstaltungen und Versammlungen und erließ ein Landeverbot für Flüge aus Europa sowie Kolumbien. Als einen Tag später dann die ersten zwei Fälle von Covid-19 bekannt wurden, folgte die Schließung aller Schulen. Maduro verhängte den Alarmzustand und am Sonntag dann die Ausgangssperre.

Vielleicht zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt wirkt Maduro, als stünde er über den politischen Grabenkämpfen, die Venezuela seit Jahren prägen. Mit Nachdruck forderte er die Aufhebung der US-Sanktionen, bat ansonsten aber darum, das Thema Coronavirus nicht zu politisieren. „Die Pandemie kennt weder ideologische noch politische oder soziale Unterschiede“, erklärte er am Sonntag.

Die Krise offenbart auch erneut, dass Oppositionsführer Juan Guaidó innerhalb Venezuelas über keinerlei Macht verfügt. Der selbsternannte Interimspräsident berief eine eigene Expertenkommission zum Coronavirus ein und betonte, dass er über gute internationale Beziehungen verfüge. Tatsächlich stellen sich die meisten Oppositionellen aber nicht grundsätzlich gegen Maduros Maßnahmen, die schließlich auch andere Länder weltweit umsetzen.

Doch die Frau in der Warteschlange beim Bäcker befürchtet nichts Gutes. „Wenn die Leute nicht genug zu essen kriegen, könnte es zu Plünderungen kommen.“