Neues Album von Mathegenie Caribou: Emotional breit aufgestellt

Tröstendes in schwierigen Zeiten: Caribou – der in London lebende kanadische Elektronikproduzent Daniel Victor Snaith und sein neues Album „Suddenly“.

Ein Mann sitzt an eine bunt bemalte Wand gelehnt, die Arme locker auf den hochgestellten Knien

Musikgewordene Infinitesimalrechnung: Dan Snaith alias Caribou Foto: Thomas Neukum

Unter den seltsamen Karrieren, die das Popbiz ermöglicht hat, ist die von Caribou die seltsamste: Der Künstler, der bürgerlich Dan Snaith heißt, ist zurückhaltender Nerd, im Brotberuf Mathematiker (Titel der Dissertation: „Overconvergent Siegel Modular Symbols“) und verschanzt sich über Monate in seinem Studio, um unzählige musikalische Skizzen zu entwerfen, bevor irgendwann daraus Musik für ein Album entsteht. Und dieser Caribou wird über Nacht zum Rave-Zeremonienmeister. Schuld daran: sein Überhit „Sun“ und sein markanter kleiner Bruder „Odessa“, beide zu finden auf dem Album „Swim“ (2010).

So paradox wie die Laufbahn des in London lebenden Kanadiers sind auch seine warmen Soundwelten, die das Organische und die Abstraktion zugleich feiern. Snaith fand an seinem Flirt mit der Popwelt übrigens durchaus Gefallen. Auf dem „Swim“-Nachfolger „Our Love“ (2014) feierte er seine Liebe zum Club erneut ausführlich.

Mit dem nun veröffentlichten neuen Werk macht Snaith nun doch vieles anders, auch wenn „Suddenly“ immer noch wie Caribou klingt. Während der 42-Jährige bisher, so überbordend seine elektronische Psychedelik auch daherkam, Ideen immer den nötigen Raum gab, ihre Wirkung zu entfalten, ist der Titel diesmal konsequent umgesetztes Programm: Unerwartete Schlenker ziehen sich durch alle Tracks.

Ausladende R&B-Hymne

„New Jade“ etwa beginnt ausladend wie eine R&B-Hymne, erinnert dank Gitarre dezent an The Cure und fädelt dann doch Richtung Dancefloor ein. Und „You And I“ setzt eine cheesy Synthie-Melodie aus den tiefsten Achtzigern, um dann in psychedelisches Geniedel zu explodieren; gepitchte Stimmen kontern nach einem radikalen Break Snaith’ natürlichen Gesang.

Caribou: „Suddenly“ (Cityslang/Indigo).

Die im April geplante Tour findet später statt

„Klar wende ich als Produzent Tricks an, um Übergänge geschmeidiger klingen zu lassen“, erklärt Snaith der taz die Arbeitsweise. „Aber diesmal habe ich mich dagegen entschieden, weiter auf Pop zu setzen. Das wäre nicht mehr ich. Die desorientierenden Momente sollten drinbleiben.“

Der Spurwechsel ist geglückt. Jeder Track ändert unerwartet die Richtung. Das mäandernde Schlittern durch Stimmungslagen ist oft anregend, funktioniert jedoch nicht immer. Die für Dancefloorsound so essenzielle Repetition ist weitgehend aus dem Caribou-Sound verschwunden; bisweilen vermisst man diese Echoräume, Ideen verpuffen zu schnell. Seine Faible für Tanzmusik, so Snaith, lebe er dieser Tage eher als Daphni aus; unter diesem Künstlernamen veröffentlicht Snaith linientreuen Techno: „In Caribou stecke ich dagegen alles, was ich an Musik liebe.“

Konkret wie nie zuvor

Zudem scheint er sich unter dem Alias neu zu erfinden – als Erzähler. Kein Zufall, dass erstmals auf jedem Stück seine Stimme zu hören ist und die Songtexte konkret sind wie nie zuvor. Reichlich Dramen habe es in seinem Umfeld gegeben: unerwartete Todesfälle, explosive Trennungen. „In den letzten fünf Jahren war mein Hauptjob, Menschen zu trösten.“ Erst im Rückblick habe er festgestellt, dass seine Kompositionen diesmal im Gegenzug die Funktion erfüllen, ihn zu trösten. „Die Arbeit am Album war wie eine Umarmung.“ Trotz des privaten Chaos blieb er stoisch dran. Tag für Tag ging Snaith ins Studio und nahm Ideen auf. Diesmal kondensierte er aus 9.000 Skizzen die Tracks.

„Suddenly“ beruft sich auf ein Werk, das er als große Inspiration bezeichnet und von dem er sich ebenfalls umarmen ließ. Es heißt „Keyboard Fantasies“ und wurde von dem afrokanadischen Transmann Beverly Glenn-Copeland 1986 im Eigenverlag veröffentlicht. Einem breiteren Publikum bekannt wurde es durch die Wiederveröffentlichung vor drei Jahren, angestoßen von einem japanischen Fan. „Die New-Age-Instrumentierung zusammen mit dieser ausdrucksstarken Stimme wirkte wie Balsam für mich“, sagt Snaith. Tatsächlich finden sich Spuren von Glenn-Copelands sanfter Elektroakustik auf „Suddenly“ wieder.

Wie eine introspektive Nabelschau klingt Caribou trotzdem nicht. Beim Auftakt „Sister“ fühlt man sich zunächst fast wie ein Voyeur, so intim klingt Snaith, wenn er sich bei seiner Schwester für sein Versagen entschuldigt – zumindest bis er sich einem imaginären Bruder zuwendet und breitere Zusammenhänge aufmacht: „Brother, you’re the one that must make changes“ heißt es da, „No one else can do it if you don’t / Surely you have noticed things are changing.“

Frauen und ihre Geschichte

Erschrocken, so erklärt er, sei er weniger über die bekannten Fälle, die in der Folge von #MeToo durch die Medien gegangen seien. „Dass mächtige Männer ihre Positionen missbrauchen, überrascht mich weniger. Viel schockierender fand ich, dass so ziemlich jede Frau, die ich kenne, eine Geschichte zu erzählen hat – und dass ich das bisher kaum wahrgenommen hatte.“ Die Debatte über toxische Männlichkeit sei für ihn ein Realitätscheck gewesen.

Diese Verunsicherung stellt er in einen weiteren Kontext: „Ich stamme aus einer Mathematikerfamilie. Vielleicht deshalb habe ich immer geglaubt, dass wir als Menschen in der Lage sind, Dinge rational anzugehen: Dass wir immer mehr über die Welt herausfinden und die Dinge besser werden. Dieser Glaube wurde in den letzten Jahren erschüttert – nicht zuletzt durch den alltäglichen politischen Wahnsinn.“ Desorientierung spiegelt sich in Songs, die atmosphärisch fortlaufend morphen: „Make up your mind, before it slips away“ heißt es etwa in dem tollen „Lime“, das als sanft blubbernder Housetrack beginnt und in gedämpftem Gechante endet.

In einem euphorisch-entrückten Schwebezustand bewegt sich dagegen der Überhit des Albums, „Home“, um ein Sample des gleichnamigen Soulstück von Gloria Barnes (1971) herum gebaut. Snaith dreht die romantische Sehnsucht, die im Original steckt, zu einer fast gespenstischen Meditation übers Sterben, wenn er mit brüchig-luftiger Stimme singt: „She’s better off than she has ever been / Now she’s made her peace with everything / Yeah she’s going home.“

Tröstlich und verunsichernd – in diesem Spannungsfeld bewegt sich „Suddenly“: oft beglückend, bisweilen durch die Zerfranstheit der Songs auch frustrierend. Emotional breiter aufgestellt kann Musik kaum sein. „Suddenly“ muss man mit Muße begegnen. Caribou machte diesmal kein Album, zu dem sich abheben lässt. Eher zieht er einem dem Boden unter den Füßen weg. Doch immerhin fällt man weich.

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