Wolf-Dieter Vogel Latin Affairs
: 4.000 Mordfälle

„Der Vergewaltiger bist du“ – mit dieser unmissverständlichen Botschaft machten chilenische Feministinnen des Künstlerinnenkollektivs Las Tesis im November auf die machistischen Verhältnisse aufmerksam. Kaum waren die Aktivistinnen in Santiago de Chile in Erscheinung getreten, sammelten sich auch in Mexiko-Stadt 3.000 Frauen, zeigten mit Fingern auf imaginäre Täter und stellten im Sprechgesang klar: „Es war nicht meine Schuld, egal wo ich war, egal wie ich mich gekleidet habe.“

Tag für Tag werden in Mexiko zehn Frauen und Mädchen ermordet, mindestens jede Vierte aus geschlechtsspezifischen Gründen. Für viele Mexikanerinnen ist es selbstverständlich geworden, mehrmals täglich Kurzmeldungen an Freundinnen und Angehörige zu schicken, um sicherzustellen, dass ihnen nichts passiert ist. Jede ist bedroht. Die grausamen Tode der siebenjährigen Fátima und der 25-jährigen Ingrid Escamilla haben dafür gesorgt, dass dieser alltägliche patriarchale Terror nun wie kaum jemals zuvor im öffentlichen Leben, in den Medien und in der Politik präsent ist.

Fátima wurde nach der Schule entführt, Tage später fand man ihre Leiche in einer Plastiktüte. Escamilla wurde von ihrem Freund verstümmelt. An jedem Zeitungskiosk konnte man am kommenden Tag sehen, wie der Täter sie zugerichtet hatte: gehäutet, ihre Organe im Zimmer verteilt. Nach ihrem Tod wurde die junge Frau so zum zweiten Mal ihrer Würde beraubt.

Für den 9. März haben Feministinnen nun zu einem Frauengeneralstreik gegen machistische Gewalt aufgerufen. Vieles deutet darauf hin, dass der Aufruf großen Anklang findet. Hochrangige Politikerinnen wollen sich ebenso beteiligen wie Arbeiterinnen, indigene Zapatistinnen und linksradikale feministische Gruppen. Nach dem Frauentag am 8. März, der auf einen Sonntag fällt, soll am Montag keine im Büro arbeiten, Wäsche waschen oder ­einkaufen.

Das rief dann jene auf den Plan, die grundsätzlich hinter jeder nicht von der Regierung kontrollierten Initiative ein Komplott gegen den sich links verstehenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador wittern. So sprach der Publizist John M. Ackerman, ein Sprachrohr des Staatschefs, von einer „unverantwortlichen Politisierung der feministischen Sache“. Auch López Obrador warnte vor feindlichen Mächten. Zudem ließ er wissen, die Frauenmorde seien ein Erbe des mittlerweile überwundenen Neoliberalismus. Der Mann ist seit 15 Monaten im Amt. Seither wurden weit über 4.000 Frauen und Mädchen hingerichtet, verstümmelt oder bis zum Tod vergewaltigt. Tendenz steigend.

Der Autor ist Mittelamerika-Korrespondent mit Sitz in Mexiko-Stadt.