: „Obwohl es Lebensmittel gibt, verstecken die Menschen Waren“
Lina Ali* (28), Lehrerin, lebt in Aleppo. Die Stadt wurde von Assad-Truppen zurückerobert. Trotzdem ist sie erleichtert, jetzt in Sicherheit zu sein
„Alles, was momentan zählt, ist, dass wir sicher sind. Dass wir schlafen, ohne an Beschuss und Bombardierung zu denken. Das ist ein Gefühl, das wir lange nicht mehr gehabt haben. Unser Haus befand sich früher in der Nähe der Gebiete, in denen die Bomben fielen. Ich hatte solche Angst, dass ich das Haus nicht mehr verlassen habe. Viele Freunde gingen weg, ohne dass ich sie verabschieden konnte. Jetzt versuchen die Menschen, in alte Zeiten zurückzukehren. Aber eine ständige Angst vor dem Unbekannten hat sich breitgemacht. Wir haben das Gefühl, dass sich alles jeden Moment ändern kann.
Ich kann Menschen, die sich über die Kontrolle des Regimes freuen, nicht verurteilen. Sie betrachten die Dinge nicht nur politisch. Sie denken über ihre Häuser und ihren Besitz nach. Unser Leben dreht sich jetzt um Strom, Wasser und Preise. Das sind unsere Sorgen.
Wir können zum Beispiel nicht mehrere Geräte gleichzeitig betreiben, weil ständig der Strom rationiert wird. Und die Preise sind unmöglich, auch wenn sich Aleppo nicht mehr in einem Belagerungszustand befindet. Ein Kilo Tomaten kostete früher 50 Pfund, jetzt sind es rund 600. Ich lebe mit meiner Familie zusammen. Obwohl wir alle als Angestellte arbeiten, übersteigt das Gehalt 130 S-Dollar nicht. Das ist auf dem aktuellen Markt sehr wenig. Und obwohl es Lebensmittel gibt, verstecken die Menschen Waren – eine Reaktion auf all das, was passiert ist. Sie leben in einem permanenten Angstzustand.
Unsere Gefühle sind ausgelöscht. Selbst unsere persönlichen Träume beschäftigen uns kaum noch. Heiraten, Kinder bekommen, einen Abschluss machen, einen Job finden – all das spielt keine Rolle mehr. Ist das nur eine Depression oder ist es das Ergebnis dessen, was passiert ist? Ich weiß es nicht. Allgemein herrscht Chaos, aber die Gesichter der Menschen auf den Straßen haben sich entspannt. Vielleicht liegt das am Gefühl der Sicherheit. Für sie steht das über allem anderen.“
* Name von der Redaktion geändert
Protokoll: Hiba Obaid
Übersetzung: Jannis Hagmann
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