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Tierfilm, einmal ganz anders

Respektvoll richtet Victor Kossakovsky seine rege Kamera auf Rind, Huhn und Schwein, vor allem aber auf „Gunda“, die Muttersau und ihre Ferkel (Encounters)

Wunder der Natur: Gunda mit Ferkel Foto: Berlinale

Von Fabian Tietke

Nach und nach wuseln drei Ferkel aus der Öffnung des Stalls. Kurz darauf wuseln sie wieder zurück, nur eines hat mit der Anhöhe aus Stroh zu kämpfen. Als es alle geschafft haben, straucheln sie an die Zitzen der Mutter und saugen eifrig quiekend Milch, bis sie satt und ermattet umplumpsen. Im Anschluss an das Fressgelage muss Sau Gunda das Stroh im Stall richten.

Von der Sau und ihren tapsigen Nachkommen verschlägt es uns dann zu einer Gruppe Hühner, die, aus ihrem Stall ­befreit, die Welt erkunden. Einige ­angedeutete Stakser später sind wir mitten unter den gefiederten Großmeistern der angedeuteten Bewegung und ziehen mit einer Gang Hühner über den Hof. Dokumentarfilmer Victor Kossakovsky trieb einigen Aufwand, um die Tiere in seinem Film „Gunda“ so in Szene zu ­setzen: Er baute einen Stall mit entfernbaren Außenwänden und vordefinierten Positionen für Minikameras, die von außerhalb des Stalls bedient wurden.

Der Film ist in Schwarz-Weiß-Bildern gehalten mit einer bewegungsfreudigen Kamera, die bereits frühere Filme Kossakovskys prägte. Text braucht es nicht in dem Film, die Kommunikation findet in den Bildern statt. Der Film lässt die Umgebung der Tiere so grenzenlos erscheinen, dass man sich als Zuschauer:in wundert, wenn das Huhn mit einem Mal vor einem Zaun steht.

Die Schweinetöffkes hingegen werden schon vorher von der mütterlichen Schnauze Gundas wieder in Reichweite gehalten; eine Kuh trabt in Zeitlupe ins Bild wie in einem Actionfilm, hält an, dreht den Kopf und beginnt zu kauen.

Kossakovskys Film läuft in der neuen Sektion „Encounters“, dem Zweitwettbewerb für „ästhetisch und strukturell wagemutige Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden“ (Berlinale). Das letzte Mal war er 1997 mit seinem Film „Sreda 19.07.1961“ (Mittwoch, 19.07.1961) auf der Berlinale in der Sektion Panorama vertreten.

Kossakovsky befragte 70 Be­woh­ner:innen von St. Petersburg, die am selben Tag wie er geboren sind. Das Ergebnis war das Porträt einer Generation kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Neun Jahre zuvor hatte er die höheren Kurse für Drehbuch und Regie an der VGIK in Moskau absolviert. Seit den 1990er Jahren ist Kossakovsky Dauergast auf allen großen Filmfestivals der Welt. Vorletztes Jahr feierte sein vorletzter Film, „Aquarela“, Premiere bei Dok Leipzig.

Vor allem seine Protagonistin rückt „Gunda“ mit ihrer ganzen Persönlichkeit ins Bild. Kossakovsky zeigt die Tiere seines Films nicht als austauschbare Lebewesen, sondern als Individuen. Selbst der Nachwuchs bekommt seinen Auftritt, als er während eines Regengusses freudig-vergnügt im Eingang des Stalls steht und die Tropfen genießt. Einem einbeinigen Huhn folgt die Kamera auf die Weiten der Wiese. Zugleich verzichtet der Film darauf, die Tiere zu vermenschlichen. Der Verzicht auf den erklärenden Kommentar, den man als Zuschauer aus Fernsehdokumentationen gewohnt ist, verleiht „Gunda“ eine Kraft der Schlichtheit.

Kossakovsky vertraut auf die Kraft der Bilder und darauf, dass sie dank der Montage für sich selbst sprechen

Die Schönheit der Bilder macht den Zugang zu „Gunda“ leicht. Das Schwarz-Weiß der Bilder gibt dem Film das Aussehen eines klassischen Filmdramas. Der Aufwand, der in die Filmaufnahmen einging, der Bau des Stalls und auch die Tonspur, die nahezu komplett nachträglich unter die Bilder gelegt wurde, werden an keiner Stelle ausgestellt. Sie treten hinter den Bildern von den Tieren zurück. Die Gleichgültigkeit, mit der die Tiere der Kamera begegnen, gibt dem Film etwas Beruhigendes, zumal im Kontext eines Filmfestivals, das sonst von menschlichen Inszenierungen auf und vor der Leinwand lebt.

Kossakovskys Filme leben von der Kraft der Bilder und dem Zutrauen, dass diese durch die Montage und das Gezeigte für sich selbst sprechen, dass es keinen zusätzlichen Kommentar braucht. Diese formale ­Entscheidung kommt um den Preis, eher allgemeine Aussagen treffen zu können über den Zustand der Welt oder eben den menschlichen Blick auf Tiere.

Die Aussagen des Regisseurs im Presseheft, die auch im Katalogtext zitiert werden, belasten den Film hingegen mit konkreten Fragen, die im Film nicht eingelöst werden. Die Aussage im Katalogtext: „Film­essayist Victor Kossakovsky ist und bleibt rigoros: Nach diesem Film sei Fleischkonsum ausgeschlossen“, ist nur schwerlich aus dem Film ableitbar. Dennoch ist es erfreulich, dass Kossakovsky nach längerer Zeit wieder einmal mit einem Dokumentarfilm auf der Berlinale vertreten ist.

28. 2., 12.30 Uhr, Zoopalast; 1. 3., 10 Uhr, Urania

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