Wut steht allein, Mut gemeinsam

Manchmal ist es nur ein Moment, der uns zeigt, dass der Wandel nicht von allein kommen wird

Wer stellt sich noch zur Wahl für die Tarifkommission?“, frage ich an diesem Morgen in einem Betrieb in Thüringen. Mein Blick wandert in die Runde der Gewerkschaftsmitglieder. Ich schaue gezielt Frauen in die Augen, denn bisher stehen vier Männer auf der Liste.

Es erfordert viel Mut, sich zu melden, um mit dem eigenen Gesicht für die ganze Belegschaft einzustehen. Teil einer Tarifkommission zu sein, das heißt, dem Arbeitgeber am Verhandlungstisch direkt gegenüberzusitzen. Es heißt auszuhalten, wenn er droht. Es heißt standhaft zu bleiben, wenn er lockt. In diesem Betrieb heißt es auch, mit dem ganzen Zorn der Geschäftsführung zu rechnen. Wütend sind zwar viele, doch den meisten fehlt der Mut aufzustehen.

Auch Anett ist schon lange wütend. Oft ist es aber ein letztes frustrierendes Erlebnis, das die jahrelange Hoffnung darauf, dass ein Wandel von selbst geschieht, endgültig zerstört. Für Anett waren es die Hitze in der Fabrikhalle und die Kälte der Geschäftsführung. Bei 40 Grad in der Produktionshalle stellte sie sich einen Ventilator an ihren Arbeitsplatz. „Stromklau hat der Chef mir vorgeworfen“, erzählt sie vor der Mitgliederversammlung.

Wut hat oft jeder für sich allein. Mut hingegen fassen viele erst gemeinsam. Als ich an diesem Tag in Anetts Augen blicke, sehe ich ein Blitzen. „Okay, ich bin dabei!“, sagt sie. Oft ist es die Gemeinschaft, die zum Handeln ermutigt. Nun ist sie eine von fünf, die für einen Wandel im Betrieb kämpfen – für mehr Lohn, aber vor allem für mehr Respekt. Katja Barthold

Auf dem taz lab am 25. April wird Gewerkschaftssekretärin Katja Barthold unter anderem über die Ermutigung durch Gewerkschaftsarbeit diskutieren