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Eine runde Sache

Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ ist ein Klassiker der Oper des 20. Jahrhunderts: Marco Štorman inszeniert das Schizo-Musikdrama gut lesbar, hörbar und ein wenig gefällig

Von Benno Schirrmeister

Hörst du Stimmen? Dann ab zum Arzt, weil: Das ist ja nicht normal. Außer im Theater: Auch in Bremen hört das Publikum in Wolfgang Rihms 1979 uraufgeführter Kammeroper „Jakob Lenz“ genau jene Stimmen, die für seine Außenwelt nicht existieren: Die Stimmen in seinem Kopf sind ihr Marker seines Wahnsinns. Und an dem nimmt das Publikum teil, sodass sich ihm eher die Frage stellt, ob die beiden Realitätspersonen des Stücks – der eine heißt Kaufmann und ist sehr, sehr vernünftig, der andere Oberlin und ist Pfaffe, also eine völlig weltliche Figur – im Wortsinn doof sind? Dass die das nicht hören?!

Was aber eben auch Zweifel aufwirft, ob das zauberhafte Renaissance-Theatrum Anatomicum, das Jil Bertermann als Spielstätte ins Bremer Opernhaus installiert hat, also ins Innere der Bühne, wie ein Amphitheater, eine schlüssige Metapher ist, oder nicht doch eher eine geniale, aber allzu runde Kulisse fürs falsche Stück? Weil ja hier, anders als in der frühen Neuzeit in diesen Schau-Pathologien niemand aufgeschnitten wird.

Es wird keine Psyche freigelegt und kein Organ – ob Lenzens Körper überhaupt welche hat, bleibt ungewiss. Es gibt auch nichts zu beobachten, außer, dass ein paar, von Noori Cho prima eingestellte Kinderchorquälgeister zwischendurch eimerweise Wasser auf die geteerte Spielfläche kippen. Lenz badet halt gern kalt. Statt der Dissektion seines schönen Geists beizuwohnen und seine Windungen zu betrachten, sind alle Zuschauer*innen in ihn hörend hineingewachsen, gezwungenermaßen. Uff! Ein paar werden ohnmächtig, die Stehplätze mit leichter Postütze sind ja so bequem nicht, und vor allem: Claudio Otelli in der Hauptrolle gestaltet seine fast pausenlose, 75-minütige Megapartie zwischen Falsett, Sprache und für Bariton unerhörter Tiefe, rezitativisch, volksliedernd, melodramatisch, zu einem Erlebnis – atemberaubend. Und ohne Luft zu holen kippste halt irgendwann um. Das ist so ein Naturgesetz.

Lenz ist ein Dichter des 18. Jahrhunderts gewesen, der, so wertet man das medizinische Bulletin heute aus, an psychotischen Schüben litt. Seine Lyrik, anakreontisch erst, dann Sturm und Drang, ganz wie Goethe, ist spektakulär multipolar, seine Dramatik von hartem Realismus und sein Weltbild radikal-individualistisch. Weshalb es kurios ist, dass ihn Geschichtspessimist Georg Büchner mit einer Erzählung zum Inbegriff des gesellschaftlich fabrizierten Wahnsinns gemacht hat. Diese Proto-Shortstory – plus Werkschnipsel plus ein paar Büchner-Fragmente – hatte Michael Fröhling zu einem locker chronologisch sortierten Bilderbogenlibretto montiert, das sich wenig bis gar nicht fürs von Platon kanonisierte Dichtung-Wahnsinns-Syndrom interessiert, sondern eher für eine unbestimmte, ständig wachsende Ausweglosigkeit. Die das Leben, die Schönheit, die Kunst unmöglich macht: „Ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für die Seligkeit“, singsagt Ottelli im Herzen der Oper einen der bürgerlichen Clowns an. Der reagiert mit Unverständnis. Das arbeitet die Musik mit bewusst unangemessenen Floskeln, bekloppten Chorälen und dem von NSDAP-Mitglied Nr. 1.478.935 komponierten „Volkslied“ über den Tag, der so wunderschön sei, dass er nie vergehen dürfe. Bass Christoph Heinrich als Pastor Oberlin, der den Verwirrten Lenz bei sich aufgenommen hat und in vollster Überzeugung der eigenen Güte pflegt, singt wohltönend und salbungsvoll diese Weisen. Lenz kann da nicht einstimmen.

„Ich habe keinen Schrei für den Schmerz“, singsagt Claudio Otelli als Jakob Lenz im Herzen der Oper

Und das leuchtet jedem ein. Man weiß auch intuitiv, dass der salbungsvolle Tenorschmelz Christian-Andreas Engelhardts als Kaufmann – schon dieser Name! – die Funktion eines Freundes so böse karikiert, als wäre er ein Facebook-Bot. Und das ist das Gute, aber auch ein wenig Tückische dieser Oper, das Geheimnis ihres Erfolgs: dass sie die doktrinäre Donaueschinger A-Tonalität überwindet, ohne in die romantische Scheiße zurückzuflutschen, der großen Wärme halber. Sie macht sich dabei indes extrem zugänglich, und das kann in Anbiedern umschlagen: Das der Hauptfigur zugeordnete, exzellente Cello-Trio driftet dissonant und polyrhythmisch auseinander? Schizophrenie ick’hör dir tremoliern!

Wo Rihms Komposition genau die Waage hält zwischen allzu kulinarischem Ohrenschmaus und nachvollziehbarer Mitteilung – die dem historischen Lenz so wichtig wie unerreichbar schien –, gibt sich die Personenführung von Regisseur Marco Štorman der Sehnsucht anfangs doch sehr hin, dem Publikum genau den grimassierenden Wahnsinn vorzuführen, den es mag, weil es ihn so gut kennt und beherrschen kann. Die konzentrierte Bühnensituation, mehr aber noch Sara Kittelmanns überdeutlichen Kostüme unterstützen das: Ottelli muss Matrosenanzug tragen, kurzhosig, und er rollt im ersten Bild noch mächtig mit den Augen. Doch das nimmt später ab, wovon die Gesangsenergie profitiert.

Und richtig schön wird’s, wenn die durch den neu geschaffenen Raum erzeugte Konzentration sich auflöst und diffundiert: Der perlweiße Kreisbau des Theatrum Anatomicum, in dem das Publikum sitzt, steht ja im Bühnenzentrum, ragt ins Lointain. Und die Szene verlagert sich gegen Ende ins Jenseits, vor den eisernen Vorhang, in die nur mit Mühe einsehbaren, auf Leinwand videoprojizierten Sesselreihen des tradierten Zuschauerraums, wo die Idee der Geliebten, die emeritierte Kinderchorbetreuerin Sibylle Bülau, als gütig lächelnde Übermutter Platz genommen hat; und sie verlagert sich auf ein Plateau, das herabschwebt, überm von Killian Farrell eisklar dirigierten Ensemble aus Philharmoniker-Solist*innen. Und dort, in der Höh’wohnen die Stimmen, diese Stimmen, die himmlischen Stimmen.

Wieder am 26. 2., 1. 3., 20. 3., 31. 3., 25. 4. und 16. 5., 19.30 Uhr, sowie am 5. 4. 18 Uhr, und am 3. 5., 15.30 Uhr. Bremer Theater, Großes Haus

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